Europäische Flüchtlingspolitik:Bethlehem ist heute in Syrien

Migrants: 956 rescued by Italian Navy boat 'Fregata Euro'

In klapprigen Booten riskieren die Flüchtlinge auf der Fahrt über das Mittelmeer ihr Leben - unzählige Male endet das tödlich.

(Foto: dpa)

"Flüchtlingspolitik mit Todesfolge" nennt die Hilfsorganisation Pro Asyl die neue europäische Grenzschutzmission "Triton" - zu Recht. Die EU als Friedensnobelpreisträgerin ist zum Schutz der Flüchtlinge verpflichtet. Es reicht nicht, weitab von Europa "Aufnahmezentren" zu bauen.

Kommentar von Heribert Prantl

In zwei Wochen wickeln wir die Weihnachtskrippe und die Krippenfiguren aus dem Zeitungspaper des Vorjahres. Wir bauen den Stall auf und gruppieren Maria und Josef, das Jesuskind, die Hirten, Ochse und Esel. Guten Gewissens können wir das in diesem Jahr nur dann tun, wenn wir den Flüchtlingen helfen. Bethlehem ist heute in Syrien. Der Stall - man kann ihn sich heute als klapprigen Flüchtlingskahn auf dem Mittelmeer vorstellen. Die Könige, sie kämen heute in Rettungsbooten.

Die Politiker in der Europäischen Union sind keine solchen Könige. Sie haben die Rettungsaktion Mare Nostrum eingestellt. Was soll man machen? Sollen die Leute halt nicht in die klapprigen Boote steigen! Die EU sichert die Grenzen mit einem Netz von Radaranlagen und Satelliten, mit Hubschraubern und Schiffen, die die Flüchtlingsboote abdrängen. Diese Politik gilt als erfolgreich, wenn keine oder möglichst wenige Flüchtlinge Europa erreichen. Mit welchen Mitteln die Flüchtlingsabwehr funktioniert, fragt kaum einer, allenfalls einmal ein Flüchtlings-Gottesdienst, der dann den Psalm 69 zitiert: "Lass die Tiefe mich nicht verschlingen."

Aus den Augen, aus dem Sinn?

Und wir fragen: Die Serie, die Sie hier in den kommenden Tagen lesen können - sie fragt auch danach. Sie geht den Schicksalen der Flüchtlinge nach. Und sie beschreibt die Politik, die zu diesen Schicksalen führt.

Die Europäische Union ist Friedensnobelpreisträgerin. Das verpflichtet: nicht zum Schutz der Grenzen, sondern zum Schutz der Flüchtlinge! Und das verpflichtet zu mehr als dazu, weitab von Europa "Aufnahmezentren" zu bauen, wie dies in der EU derzeit diskutiert wird. Das Asyl soll also dorthin, wo die Flüchtlinge herkommen. Und das heimliche Motto heißt: Aus den Augen, aus dem Sinn.

"Wacht auf Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt". Eines der bekanntesten alten Arbeiterlieder beginnt mit dieser Zeile. Das Lied, 1871 geschrieben, ist die Klage der Arbeiter über Ausbeutung, Hunger und Elend. Die Verdammten dieser Erde - es sind heute die Flüchtlinge. Sie fliehen vor Bürgerkrieg und Folter, vor Hunger und absoluter Armut; ausgeschlossen aus der Welt, in der ein Fünftel der Weltbevölkerung vier Fünftel aller Reichtümer verbraucht, lockt sie die Sehnsucht nach einem Leben, das wenigstens ein wenig besser ist. Die Ausgeschlossenen drücken sich an die Schaufenster, hinter denen die Verprasser des Reichtums der Erde sitzen.

Bei der Euro-Rettung war der Einsatz größer

Die Insel Lampedusa ist für die Flüchtlinge eine Rettungsinsel im Mittelmeer. Viele erreichen die Insel aber nicht; und denjenigen, die sie erreichen, hilft das nichts. Man schickt sie wieder weg. Man verfrachtet die meisten Flüchtlinge umgehend dorthin, wo sie herkommen. Das Mittelmeer ist ein Massengrab: Tausende von Toten sind gezählt worden. Sie waren Bootsflüchtlinge auf dem Weg nach Europa; sie sind verdurstet auf dem Wasser, sie sind ertrunken auf hoher See oder vor Lampedusa, sie sind erfroren in der Kälte der europäischen Flüchtlingspolitik. Die gezählten und die ungezählten Toten sind auch an ihrer Hoffnung gestorben. Diese Hoffnung bestand darin, die Not hinter sich zu lassen und in Europa Freiheit und ein besseres Leben zu finden.

Wenn es bei der Rettung des Euro so kläglich wenig Einsatz gegeben hätte wie bei der Rettung von Flüchtlingen: Es gäbe den Euro schon längst nicht mehr. Der EU-Grenzschutzagentur Frontex ist jüngst ein Miniatur-Rettungsprogramm "Triton" aufgepfropft worden. Man will nicht viel Geld dafür ausgeben, aber so tun, als täte man was. Das ist, so klagt die Hilfsorganisation Pro Asyl zu Recht, "Flüchtlingspolitik mit Todesfolge".

Absaufen lassen ist billig

Es ist beschämend, dass die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete EU nicht einmal gewillt ist, die Kosten für das wunderbare, das grandiose bisherige italienische Rettungsprogramm "Mare Nostrum " zu übernehmen. 108 Millionen Euro jährlich würde das kosten - eine Investition, die Menschen rettet. Aber diese Menschen hätte man ja dann, so denkt wohl mancher im Stillen, am Hals; die Geretteten müsste man aufnehmen und beherbergen. Absaufen lassen ist billig. Deswegen gibt es jetzt nur mehr ein Mare Nostrum light.

Staaten haben Botschafter mit Schlips und Kragen. Die Menschenrechte haben auch Botschafter, nur kommen sie meist nicht so elegant daher - es sind die Flüchtlinge und Asylbewerber. Sie sind die Botschafter des Hungers, der Verfolgung, des Leids. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist ihre Depesche. Indes: Europa mag diese Botschafter nicht empfangen, Europa mag sie nicht aufnehmen. Die europäischen Außengrenzen wurden so dicht gemacht, dass es dort auch für die Humanität kein Durchkommen mehr gibt.

"Gute" und "schlechte" Flüchtlinge

Pontius Pilatus war ein vergleichsweise mutiger Mann. Europas Politiker waschen ihre Hände in Unschuld - sie waschen ihre Hände in dem Wasser, in dem die Flüchtlinge ertrinken. Die Kosten des Gipfels der Staats- und Regierungschefs der Industriestaaten auf Schloss Elmau in Oberbayern am 4. und 5. Juni 2015 liegen ungefähr so hoch wie die Kosten, die für die Rettung von ein paar Tausend Flüchtlingen aufzubringen wären. Ist politische Wellness wichtiger als die Rettung von Menschen?

Im Altertum gab es sieben Weltwunder: Die hängenden Gärten der Semiramis; den Koloss von Rhodos; das Grab des Königs Maussolos; den Leuchtturm auf der Insel Pharos; die Pyramiden von Gizeh; den Tempel der Artemis in Ephesos und die Zeusstatue von Olympia. Heute gibt es die Europäische Union und das Europäische Parlament, das die weltweit einzige direkt gewählte supranationale Institution ist. Ein Weltwunder. Zu diesem Weltwunder gehören die Europäischen Grundrechte, zu diesem Wunder gehört also auch das Asylrecht und der Schutz vor Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung, zu diesem Wunder gehört der Schutz von Menschen, die in ihrer Heimat verfolgt werden - ob diese Heimat nun in oder außerhalb von Europa liegt. Dieses Schutzversprechen gehört zum europäischen Friedensversprechen. Es darf nicht zuschanden werden.

Es darf nicht sein, dass die Flüchtlinge in gute und schlechte Flüchtlinge sortiert werden - wobei gut und schlecht nach geografischen Kriterien beurteilt wird. Entscheidend kann nicht sein, wo Flüchtlinge herkommen - ob vom Balkan oder aus Syrien. Entscheidend muss sein, ob sie Schutz brauchen. Die Europäische Union ist, wie gesagt, Trägerin des Friedensnobelpreises. Wenn sie es nicht schafft, dass Menschen in ihren Heimatländern - in Serbien, Mazedonien oder Bosnien-Herzegowina - ohne Verfolgung in Frieden leben können, dann muss sie ihnen anderswo ein verfolgungsfreies Leben ermöglichen. Das ist Flüchtlingsschutz.

Europa muss Bürgergemeinschaft sein

Aschenputtel hat Linsen sortieren müssen - und zu diesem Zweck die Hilfe der Tauben erbeten: "... die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen!", hat sie den Tauben gesagt. So einfach ist das bei Flüchtlingen nicht. Derzeit gibt es eine Tendenz, die Flüchtlinge in die guten Flüchtlinge aus Syrien und in die schlechten Flüchtlinge vom Balkan, Sinti und Roma vornehmlich, einzuteilen - die einen werden gern gegen die anderen ausgespielt; und es heißt dann, man würde gern ein paar Roma loswerden und dafür ein paar Syrer aufnehmen. Aber: Menschen sind keine Bauklötzchen, die man schnell einmal verschieben und austauschen kann. Und: Es geht einem Menschen, dem es schlecht geht, nicht schon deswegen besser, weil es einem anderen Menschen noch schlechter geht. Sinti und Roma dürfen in der neuen Flüchtlingsdebatte nicht unter die Räder kommen.

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360° - Geschichten und Hintergründe, die im Nachrichtenalltag oft untergehen.

  • Fünftausend Kilometer Angst

    "Syrer? Papiere? Mitkommen!" Vier Wochen lang sind Sadik und Edis auf der Flucht. Im Gepäck ein Glas Honig gegen Heimweh - und Angst vor Assads Schergen. Die Brüder wollen nach Deutschland. Mit dem Zug. Doch plötzlich stehen Polizisten vor Edis. Sadik rührt sich nicht.

Europa darf nicht nur Wirtschaftsgemeinschaft sein, es muss Bürgergemeinschaft sein. Es darf nicht nur Nutzgemeinschaft für Industrie und Banken sein, es muss Schutzgemeinschaft für die Menschen werden. Das geht nicht mit Geschwurbel, das geht nur mit handfester sozialer Politik, dazu gehört eine gute Politik für Flüchtlinge.

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