Wahlen im Ruhrgebiet:Wo die Parlamente wuchern

  • Statt 71 sind es nun 138 Mandate: das Ruhrparlament in Essen wird massiv vergrößert. Das wird den Steuerzahler wohl mehrere Millionen Euro zusätzlich bis zur Kommunalwahl 2020 kosten.
  • Im Parlament spiegelt sich die Aufsplitterung der Kommunalparlamente in NRW wider. CDU und SPD wollen die Fünf-Prozent-Hürde wieder einführen. Das ginge natürlich auf Kosten kleiner Parteien.

Von Jannis Brühl, Essen

An diesem Freitag tagt so etwas wie das verrückteste Abgeordnetenhaus Deutschlands: das Ruhrparlament in Essen, die gemeinsame Versammlung von elf kreisfreien Städten und vier Kreisen aus dem Pott. Weil die Demokratie in Nordrhein-Westfalen ein bisschen bunter ist als anderswo und hier auch kleine Parteien schneller zu einem Mandat kommen, sitzen dort auf einen Schlag fast doppelt so viele Abgeordnete wie noch im Sommer: Statt 71 sind es nun 138. Das wird den Steuerzahler wohl fünf Millionen Euro zusätzlich bis zur Kommunalwahl 2020 kosten.

Schuld an dem demokratischen Riesenwuchs ist eine kleine Entscheidung in Recklinghausen. Zunächst brachten die Bürger des Ortes bei den Kommunalwahlen im Mai mit 6,8 Prozent der Stimmen eine Minipartei in den Kreistag: die Unabhängige Bürgerpartei (UBP). Die ist gegen Moscheen, Straßenstrich und zu viele Ampeln, aber für Abschiebungen und Kreisverkehr.

Dann wurde im Kreistag abgestimmt, wer ins Ruhrparlament entsendet wird. In dem Entscheidungsgremium des Regionalverbandes Ruhr (RVR) sollen die Kommunen der Region sich besser abstimmen und am gemeinsamen Auftritt nach außen feilen. Obwohl die UBP im Recklinghauser Kreistag nur drei Abgeordnete hatte, erhielt ihr Kandidat sechs Stimmen und durfte nach Essen. Die Stimmen für die Populisten kamen wohl von der CDU.

Was dann folgte, war höhere Mathematik. Wie gesetzlich vorgeschrieben, rechnete der Algorithmus der Pott-Demokratie los und kam auf ein korrektes, aber irres Ergebnis: Weil die UBP in Recklinghausen nur etwa 10 000 Stimmen bekommen hatte, und dann über den Kreistag ein Mandat im Ruhrparlament, entsprachen nun jedem Mandat 10 000 Stimmen - zuvor waren es fast doppelt so viele gewesen. Weil die anderen Parteien nun plötzlich mehr Sitze für ihre vielen Stimmen bekamen, durften sie einen Haufen Ausgleichsmandate mit Kandidaten von ihren Reservelisten füllen. Am Ende waren es 67 Abgeordnete mehr als vor der Wahl.

Ein Gedankenspiel: Hätte der Dortmunder Stadtrat den Vertreter einer lokalen Bürgerinitiative ins Ruhrparlament weitergewählt, die noch deutlich weniger Stimmen als die UBP hatte, wären es insgesamt gar 1180 Sitze geworden. Wegen solcher Aussichten sieht ein Gutachten, das der RVR in Auftrag gegeben hat, die Funktionsfähigkeit des ganzen Regionalverbandes "gefährdet".

800 000 Euro mehr im Jahr kostet die Erweiterung, wo doch die Ruhrstädte finanziell angeschlagen sind, wie der RVR selbst vor kurzem Wissenschaftler vorrechnen ließ: Die hohen Altschulden sind dieser Studie zufolge "eine tickende Zeitbombe".

Den größten Schaden hat die SPD - weil sie schlecht auf einen solchen Fall vorbereitet war. Nach Stimmen war sie stärkste Partei, weil sie aber nicht genug Genossen auf die Reserveliste geschrieben hatte, konnte sie nicht alle Ausgleichsmandate besetzen. Ansonsten säßen noch einmal 25 Abgeordnete mehr im Plenum. Die CDU hingegen hat nun neun Mandate mehr und kann die Koalition mit SPD und Grünen anführen.

Bei 91 Abgeordneten soll Schluss sein

Acht Fraktionen und drei einzelne Abgeordnete sitzen im Ruhrparlament. Das spiegelt auch die Aufsplitterung in den Kommunalparlamenten von NRW wider. Aus Sicht der großen Parteien wird der Wählerwille dort etwas zu genau abgebildet. Denn nicht nur Ausgleichsmandate führen zu Überrraschungen nach Wahlen wie im Fall des RVR. Das Verfassungsgericht des Landes hat 1999 auch die Fünf-Prozent-Hürde für Kommunalwahlen verboten.

Nun sitzen Piraten, AfD, Freie Wähler, Bürgerlisten und diverse Rechtsradikale mit Minifraktionen in den Räten. Das ist demokratisch, aber nicht besonders praktisch. In Duisburg dauert eine Ratssitzung schon mal bis fünf Uhr früh.

CDU und SPD überlegen, wie sie eine neue Sperrklausel verfassungsrechtlich einwandfrei gestalten können. Ein entsprechendes Gutachten hat die SPD bereits erstellen lassen. Die beiden Parteien müssen sich aber den Vorwurf anhören, die eigene Macht zementieren zu wollen, auf Kosten kleiner Parteien - und vieler Wählerstimmen, die dann nicht mehr gezählt werden.

Für das Ruhrparlament bauen die Parteien darauf, dass mit dem neuen RVR-Gesetz, das im Landtag verhandelt wird, die Direktwahl des Ruhrparlamentes eingeführt wird. Und eine Begrenzung auf 91 Abgeordnete. Es kommt wohl selten vor, dass die Mehrheit in einem Parlament selbiges selbst verkleinern will.

Zwei Sitzungen verbrachten die Abgeordneten außer Haus, an diesem Freitag tagen sie wieder in ihrem angestammten Essener Sitzungssaal, um über ihren Haushalt und vieles andere zu beraten. Der holzvertäfelte Raum musste umgebaut werden. Er ist jetzt ein Meer aus Stühlen mit lila Bezügen. Bis zum Sommer waren es deutlich weniger, und vor jedem stand ein Tisch. So etwas Raumgreifendes haben jetzt nur noch die Fraktionsspitzen in den ersten zwei Reihen.

Ruhrparlament Essen RVR

Mehr Stühle, weniger Tische: das vergößerte Ruhrparlament in Essen.

(Foto: Brühl)

Das Parlament hat eigentlich zu viel tun, um sich mit der eigenen Größe zu beschäftigen. Unter anderem stehen Entscheidungen über Fracking-Claims von Gaskonzernen und Korridore für Windräder an - oder über ein Gewerbegebiet in Wesel. Vor allem aber wird sich die Versammlung einer ihrer wichtigsten Aufgaben widmen: das Image zu bekämpfen, dass im Ruhrgebiet nichts funktioniert.

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