Ukrainer über die Krise:Reste des europäischen Traums

Ukrainians mark the first anniversary of the start of the Pro-Eur

Ukrainer gedenken auf dem Maidan den Ereignisse vor einem Jahr, als die Polizei zum ersten Mal gewaltsam gegen die Demonstranten vorging.

(Foto: dpa)
  • Der ukrainische Student Orest Franchuk war unter den Ersten, die im November 2013 in Kiew auf die Straße gingen. Heute denkt er mit gemischten Gefühlen an die EU.
  • Von der EU wünscht er sich angesichts der schlechten wirtschaftlichen Situation und des Kriegs im Osten mehr Unterstützung.
  • Das Ergebnis der Parlamentswahl hat ihn teilweise ernüchtert. Auch die Reformen, die die neue Regierung auf den Weg gebracht hat, gehen nur langsam voran.
  • Dennoch dominiert in der Ukraine die vorsichtige Hoffnung, dass sich das Land auf dem richtigen Weg befindet. Der Maidan ist für viele zum Symbol für Demokratie geworden.

Gastbeitrag von Orest Franchuk, Kiew

Orest Franchuk studiert Jura an der Kyiv-Mohyla Academy in Kiew. Ein Jahr nach Beginn der Proteste zieht er eine sehr persönliche Bilanz und schildert die Stimmung in der Ukraine. Der Artikel erscheint im Rahmen der Kooperation "Mein Europa" von Süddeutsche.de mit dem Projekt FutureLab Europe der Körber-Stiftung.

Was ich im November 2013 hoffte

Ich war im November 2013 dabei, als die ersten Studenten auf die Straßen gingen. Ich hatte erwartet und gehofft, dass am Ende Präsident Viktor Janukowitsch abgelöst sein würde, dass wir einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament haben würden und die Lage insgesamt eine bessere wäre. Nach den blutigen Verbrechen auf dem Maidan war ich absolut überzeugt davon, dass niemand es mehr wagen würde, Bestechungsgelder anzunehmen, öffentliche Gelder zu veruntreuen oder für prorussische Interessen im Parlament einzutreten. Ich glaubte fest daran, dass die Polizei gewaltlos bleiben und Richter absolut unparteiische und gerechte Urteile fällen würden.

Entweder war ich naiv oder meine Emotionen trübten meinen Realitätssinn.

Ein Jahr später haben wir einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament. Einigen Maidan-Aktivisten ist es gelungen, die Sitze derer einzunehmen, die sie aus dem Parlament vertrieben haben. Doch die Parlamentswahlen haben mich sehr enttäuscht.

Der Oppositionsblock (die frühere Partei der Regionen unter Janukowitsch) kam auf 9,43 Prozent. Die Radikale Partei des Populisten Oleh Ljaschko erhielt 7,44 Prozent der Stimmen. 62 Politiker, die für die "Diktatorengesetze" gestimmt hatten, zogen ins Parlament ein. Diktatorengesetze - so nannten wir Maidan-Aktivisten während der Proteste im Januar die Regeln zur Beschränkung der Rede- und Versammlungsfreiheit. Und wieder sind im Parlament ganze Familien vertreten - selbst Präsident Poroschenko versäumte es nicht, seinen ältesten Sohn im Parlament unterzubringen.

Der Konflikt in der Ostukraine hat sich zu einem Krieg ausgewachsen, viele Menschen sind gestorben. Diejenigen, die kämpfen, sind schlecht ausgestattet und unterernährt. Auch die Staatsdiener auf mittlerer und unterer Ebene, die dem früheren Regime angehört haben und ihre Positionen weiter innehaben, stellen ein Problem dar.

Ein Jahr nach den Protesten ist meine Einstellung realistischer.

Eine vorsichtig optimistische Haltung überwiegt

Doch trotz aller Enttäuschungen würde ich sagen, dass ich die überwiegend optimistische Haltung der meisten Ukrainer teile. Insgesamt ist die Stimmung zuversichtlich. Die Menschen sind begeistert davon, sich vernünftig und patriotisch zu verhalten. Die Menschen haben Witze über die schlechte wirtschaftliche Lage gemacht, die so schlecht sei, dass sie gar nicht schlechter werden könne. Auch wenn weiterhin so geredet wird, ist mein Eindruck, dass die Menschen beim Thema Finanzen dazugelernt haben: Sie heben nicht mehr so viel Geld ab wie früher. Das führt hoffentlich zu einer Stabilisierung des ukrainischen Bankensektors.

Ungeachtet der schlechten Nachrichten schweißt der Krieg im Osten die Ukrainer zusammen. Fast jeden Tag wird über tapfere Taten unserer Soldaten in der Ostukraine berichtet. Normale Bürger bieten sich als Freiwillige an und unterstützen die Armee mit viel Geld. Selbst Menschen mit Familie, gutbezahlten Jobs und ausgezeichneter Ausbildung gehen als Freiwillige zum Militär und beweisen an der Front großen Patriotismus. Diejenigen, die nicht kämpfen, unterstützen die Kämpfenden, indem sie Geld sammeln, Essen und Uniformen bringen, ja sogar Autos und Flugzeuge.

Trauer und Angst wegen des Kriegs im Osten

Doch es herrscht Krieg. Und wo Krieg herrscht, sterben Menschen. Trauer und Angst beherrschen die Empfindungen der Ukrainer. Freunde berichten mir, wie ihre Verwandten oder Freunde in die Armee eingezogen werden. Einige von ihnen sind inzwischen tot. Willkürlich werden Menschen aus der ganzen Ukraine für die Armee rekrutiert und viele haben permanent Angst, dass auch ihre Söhne, Väter und Ehemänner gegen die Terroristen und russischen Kräfte in der Ostukraine kämpfen müssen. Studenten fühlen sich etwas sicherer, weil sie bislang nicht rekrutiert wurden. Doch jüngst hat das Verteidigungsministerium die Teilmobilmachung ins Spiel gebracht um diejenigen zu ersetzen, die schon seit einer Weile im Osten kämpfen und eine Pause brauchen.

Die Opferzahl ist deutlich höher als die offiziellen Berichte in den Medien glauben machen wollen. Auch die Versorgung der Soldaten mit Lebensmitteln und Kleidung ist deutlich schlechter als angegeben. Aus diesem Grund nutzen immer mehr Menschen unabhängige Medien und informieren sich aus erster Hand via Facebook und Twitter.

Nur langsam beginnen die Menschen, Nachrichten aus verschiedenen Quellen zu konsumieren und zu prüfen. Während der Maidan-Proteste fungierte Facebook als Plattform für Gleichgesinnte, die ihnen dabei half, sich zu treffen, zu organisieren und verschiedene Funktionen zu übernehmen: Geld zu spenden, Material an die Armee zu liefern oder die Korruption im Auge zu behalten.

Der "Bruder" ist zum Aggressor geworden

Das neue Kabinett von Poroschenko wird von den Bürgern sehr genau beobachtet. Die Ukraine hat sich auf den Weg der Reformen und Entwicklung begeben, etwas, von dem ich hoffte, dass es eintreten würde, als ich vor einem Jahr auf die Straße ging. Doch die Ukraine muss sich vor Russland schützen, einem Land, das sich immer noch "Bruderstaat" nennt. Der "Bruder" aber ist zum Aggressor geworden, er unterstützt den Terrorismus in der Ostukraine und hat die Krim besetzt. In diesem Krieg sind nicht nur die Interessen der Ukraine gefährdet, sondern auch die demokratische und prosperierende Welt mit dem Ziel, Putins totalitäres Regime zu schützen.

Auf dem Weg zur Arbeit gehe ich oft über den Maidan. Das erinnert mich jedes Mal an die Ereignisse vor einem Jahr. Auch wenn er wieder ein öffentlicher Platz ist, bleibt er ein Symbol - für Demokratie. Und irgendwie auch eine heilige Stätte. Die Menschen nutzen den Maidan nicht mehr um sich dort zu vergnügen, wie das früher der Fall war, sondern sie kommen hierher, um zu trauern, zu demonstrieren und zu erinnern.

Enttäuscht von Leuten wie Marine Le Pen

Der Traum von Europa hat uns zu den Protesten getrieben. Heute denke ich mit gemischten Gefühlen an die EU. Ich finde es sehr traurig und enttäuschend, dass Leute wie Marine Le Pen, der ungarische Premierminister Viktor Orban, der tschechische Präsident Milos Zeman oder Nigel Farage Putin loben und sich für russische Interessen einsetzen. Damit tragen auch sie eine Verantwortung für die Toten im Osten. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich möchte nicht, dass die EU einen Krieg gegen Russland beginnt. Doch ich wünsche mir größere Unterstützung für mein Land. Angesichts unserer schlechten wirtschaftlichen Situation und der Ausstattung der ukrainischen Armee ist finanzielle Unterstützung für die Ukraine unabdingbar.

Ich bin immer noch zuversichtlich und glaube daran, dass sich die Ukraine in die richtige Richtung entwickeln wird. Doch ich weiß auch, dass ich geduldig sein muss. Der Wandel wird nicht schnell kommen oder leicht sein. Die Zeiten sind hart und die Herausforderung ist für uns alle groß, vor allem, da Russland alles daran setzt, die Ukraine an ihrer Entwicklung zu hindern.

Übersetzung: Dr. Dorothea Jestädt

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