Neuer Präsident in Tunesien:Lichtblick im Frühling

Neuer Präsident in Tunesien: Unterstützer des neuen tunesischen Präsidenten Béji Caïd Essebsi freuen sich über seinen Wahlsieg.

Unterstützer des neuen tunesischen Präsidenten Béji Caïd Essebsi freuen sich über seinen Wahlsieg.

(Foto: AFP)

In Tunesien hat der Arabische Frühling begonnen. Er ist noch nicht zu Ende: Das Land hat erstmals in seiner Geschichte in freier Wahl einen Präsidenten bestimmt - und damit die letzte Stufe der Demokratisierung bewältigt.

Kommentar von Rudolph Chimelli

Klischees können Wahrheit enthalten. Im Maghreb ist Marokko feudal, Algerien proletarisch, Tunesien bürgerlich, so lautet einer dieser Gemeinplätze. Dass das kleine Tunesien, anders als die meisten arabischen Länder, eine leidlich funktionierende Zivilgesellschaft hat, zeigt die erwartete Wahl des Veteranen Béji Caïd Essebsi zum Präsidenten. Essebsi hatte schon dem Staatsgründer Habib Bourguiba und kurz dem Diktator Ben Ali gedient, bevor er nach der Revolution erster provisorischer Regierungschef seines Landes wurde.

Hinter Essebsi und seiner Sammlungsbewegung Nidaa Tounes steht eine bunte Koalition aller Tunesier, die nicht von den Islamisten der Ennahda-Partei beherrscht werden wollen. Darunter sind Linke ebenso wie Wirtschafts-Laizisten sowie ehemalige Funktionäre und Profiteure des gestürzten Regimes. Essebsi selbst sieht sich als eine Art Reinkarnation Bourguibas.

Der unterlegene Kandidat, der bisherige Präsident Moncef Marzouki, Menschenrechtler und Sozialist, besaß die Unterstützung der Islamisten, die keinen eigenen Bewerber aufgestellt hatten. Marzouki wollte sich aber nicht auf sie berufen. Sein ehrenwertes Motiv ist, dass er die weitere Polarisierung des Landes vermeiden wollte, denn er hält an der Überzeugung fest, dass Tunesien nicht gegen die Islamisten regiert werden kann.

Tunesien stellt vermutlich das größte IS-Söldnerkontingent

Essebsi und der Ennahda-Chef Rachid Ghannouchi hatten sich schon im vergangenen Jahr bei einem geheimen Treffen in Paris auf einen Modus Vivendi geeinigt. Eine große Koalition könnte die beste Lösung sein. Sie wäre der Wunsch von Ennahda. Doch Essebsi, dessen Sammlungsbewegung schon die Mehrheit im Parlament hat, wird ein Bündnis mit den Islamisten nach Möglichkeit vermeiden wollen und kleine Koalitionspartner suchen.

Seine Kritiker befürchten nun, dass es zu einer schleichenden Annäherung an die Machtverhältnisse von ehedem kommen könnte, wenn alle Macht in die Hände eines Lagers fallen sollte. Was bliebe dann noch von der Revolution?

Tatsächlich besteht die fatale Zweiteilung des Landes schon jetzt. Nicht nur in der öffentlichen Meinung. Das Landesinnere und der Süden sind unterentwickelt, bitterarm und von der Politik enttäuscht. Sie dürften überwiegend für Marzouki gestimmt haben. Die Hauptstadt und die Küstenregion möchten, dass die Touristen und der Wohlstand wiederkehren.

Hier hat Essebsi seine Anhänger. Doch auch in diesen Gebieten gingen viele junge Leute nicht zur Wahl. Falls sie Arbeit finden, verdienen sie mit Glück selbst als Universitätsabsolventen nur fünf bis zehn Euro am Tag. Sie haben kein Haus, kein Auto, kein Gehalt und keine Frau wie die Angehörigen der herrschenden Klasse. Wie groß der soziale Druck ist, zeigt, dass Tunesien mit schätzungsweise 3000 Dschihadisten, die nach Syrien und in den Irak gingen, das wahrscheinlich stärkste Kontingent in der Söldnertruppe des "Islamischen Staates" stellt. Die tunesischen Sicherheitskräfte verfolgen sie erbarmungslos.

Gleichwohl ist es ein Gewinn für Tunesien, dass es mit der Wahl Essebsis auch die letzte Stufe der Demokratisierung erfolgreich bewältigt hat. Das Land gab sich erst eine Verfassung, wählte dann ein Parlament und hat nun auch einen Staatschef bestimmt, zum ersten Mal in seiner Geschichte in freier Wahl.

Anders als bei den verpfuschten Reformversuchen in Ägypten, Libyen oder anderen Teilen der arabischen Welt verlief die Umwälzung in Tunesien - von einigen Ausrutschern und terroristischen Anschlägen abgesehen - völlig unblutig. Nie hat die tunesische Armee auf das Volk geschossen. Die Medien sind frei. In Tunesien hat vor vier Jahren der Arabische Frühling begonnen. Hier ist er noch nicht zu Ende.

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