Weihnachten 1914 in der Zeitung:"Blühend in unwiderstehlicher Kraft steht unser Volk"

Weihnachten 1914 in der Zeitung: So verbrachten viele deutsche Männer das erste Weltkriegs-Weihnachten: Soldaten im Schützengraben in Flandern im Dezember 1914.

So verbrachten viele deutsche Männer das erste Weltkriegs-Weihnachten: Soldaten im Schützengraben in Flandern im Dezember 1914.

(Foto: AP)
  • Entgegen der Hoffnungen bei Kriegsausbruch ist der Weltkrieg Weihnachten 1914 noch nicht vorbei. Die "Münchner Neuesten Nachrichten" reagieren darauf mit Durchhalteparolen und der Beschwörung der Einheit der deutschen Nation.
  • Mehrfach wird an Weihnachten 1870 erinnert, als die Soldaten im deutsch-französischen Krieg ebenfalls im Felde standen - und dafür später mit einem Sieg "belohnt" wurden.
  • Das Alltagsleben in Deutschland geht weiter, wenn auch vielfach geprägt vom Krieg. So vermittelt es das Münchner Blatt. Die vielen Todesanzeigen weisen allerdings auf eine härtere Kriegsrealität hin.
  • Das Geschehen an den Fronten wird in beschönigender Form geschildert. Doch zwischen den Zeilen lässt sich oft lesen, was tatsächlich passiert.

Von Barbara Galaktionow

"Ausflug nach Paris" schrieben die deutschen Soldaten im August 1914 an Züge, die sie zur Westfront brachten. Viele gaben sich der Illusion hin: Zu Weihnachten sind wir wieder zu Hause. Doch die Hoffnungen auf einen kurzen siegreichen Feldzug zerstoben schnell. Knapp fünf Monate nach Kriegsbeginn hatten die Kriegsparteien bereits Hunderttausende Tote zu beklagen und zahllose Verwundete.

An der Ostfront lieferten sich die Gegner nach dem deutschen Anfangserfolg in der Schlacht bei Tannenberg heftige Gefechte. Und im Westen erstarrten die Fronten bereits nach der Schlacht an der Marne im September, die den Vormarsch der deutschen Truppen stoppte. Anstatt in der Heimat unterm Weihnachtsbaum zu sitzen, steckten die Soldaten hier im Schlamm der Schützengräben fest, zermürbt durch Trommelfeuer und Granatenbeschuss.

Der Segen der Weltkriegs-Weihnacht

Doch in den Münchner Neuesten Nachrichten vom 24. Dezember 1914 hört sich das anders an: "Gesund und blühend in unwiderstehlicher Kraft steht unser Volk im nie dagewesenen Ringen unüberwindlich da, dem Feinde ein Schrecken", heißt es da. Von der "Weihe des Schlachtfeldes" ist die Rede und der "Einigkeit der Nation", die der Krieg den Deutschen "geschenkt" habe.

Die deutsche Volksseele, das wird hier deutlich, ist durch die Herausforderung des Kriegs eigentlich erst so recht zu sich gekommen. Und wenn es den Deutschen gelänge, diese Einigkeit auch im Frieden zu erhalten, "wird ein Segen ausgehen von diesem Weihnachtsfeste mitten im Weltkriege." Ja, das Blatt zeigt sich überzeugt: "Kein Krieg, mag er noch so schrecklich sein, kann die Friedensbotschaft auslöschen, die den Völkern geworden."

Pathos und Durchhalteparolen werden dem Elend des andauernden Kriegs entgegengehalten. An die zerstobenen Erwartungen vom Sommer wird nicht gerührt. Stattdessen wird lieber eine noch weiter entfernte Vergangenheit herangezogen, um die Hoffnung auf einen Sieg aufrechtzuerhalten.

Die Zeitung gibt eine kleine Statistik aus der "Feder eines russischen Generals" wieder. Diese sei für die vergangenen 200 Jahre berechnet und "ergibt die Tatsache, daß Preußen oder seit 1870 Deutschland das siegreichste Land der Welt ist". 61 Prozent aller Schlachten soll Preußen/Deutschland gewonnen haben, deutlich mehr als alle anderen (wobei Russland in der kleinen Tabelle nicht enthalten ist). So sehr die damaligen Zeitgenossen daraus Mut für die ihnen bevorstehenden Herausforderungen gezogen haben mögen - aus heutiger Sicht wird einmal mehr klar, dass die Aussagekraft von Statistiken oft äußerst begrenzt ist.

Wie 1870 - nur anders

Immer wieder beschworen wird in den Weihnachtstagen 1914 die Erinnerung an ein anderes, zentrales Ereignis der damals jüngeren deutschen Geschichte: den deutsch-französischen Krieg 1870/71, aus dem Deutschland siegreich hervorging. Gleich mehrfach klingt das in den Münchner Neuesten Nachrichten an.

In der Beilage "Kriegs-Weihnachten" erfährt der Leser, "wie unsere Krieger 1870 Weihnachten feierten", wie nämlich "das deutsche Herz auch vor der belagerten Hauptstadt des Feindes (Paris) von seinem Lieblingsfest nicht lassen" konnte und die Lichter zahlreicher Christbäume entzündete. An anderer Stelle heißt es: "Groß war die Zeit von 1870, aber größer ist die Zeit von 1914", weil "heute ein vom Glück verwöhntes Volk die gleiche unerhörte Kraft der Aufopferung gegen eine Welt von Feinden zeigt".

Münchner Neueste Nachrichten 1914

An Weihnachten 1914 liefern die "Münchner Neuesten Nachrichten" ihren Lesern in der Beilage "Kriegs-Weihnachten" viel ermunternden und pathosgeschwängerten Lesestoff zum andauernden Weltkrieg.

(Foto: oH)

Und Kronprinz Wilhelm, der als Weihnachtsgabe an die Soldaten an der Westfront eine "Tabakspfeife mit meinem Bilde" versendet, wird mit den Worten zitiert, dass Ähnliches bereits "mein Großvater, der Kronprinz Friedrich Wilhelm, Weihnachten 1870" getan habe.

Wie der Kronprinz, so senden auch verschiedene Städte sowie Angehörige der Soldaten weihnachtliche "Liebesgaben" an die Front. Die Weihnachtspakete für das Feldheer seien weitgehend ausgeliefert, erfahren die Menschen daheim am 24. Dezember in ihrer Zeitung. Und drei Tage später beschreibt der "Sonderberichterstatter" der Zeitung die Fahrt des Münchner Weihnachtszuges ins Generalkommando: "Wir hatten einen großen Weihnachtssack. Ueber dreißig vollgepfropfte Güterwagen mit Tausenden Kasten und Kisten, darunter einige Wagen mit dem vielentbehrten und vielbegehrten braunen Münchener Saft."

Überhaupt ist die Versorgungslage im Winter 1914 trotz des Kriegs bei Weitem noch nicht so dramatisch wie sie zwei Jahre später, im sogenannten Steckrübenwinter, werden sollte. Doch Einschränkungen sind schon spürbar. Kein Wunder, hatte doch das Kaiserreich vor dem Krieg ein Drittel seiner Lebensmittel importiert, die fallen nun weitgehend weg. Und in der Landwirtschaft wird der Mangel an Arbeitskräften - junge Männer müssen meist einrücken - immer spürbarer. Der Käse- und Butterpreis sei so hoch wie nie zuvor, melden die Neuesten Nachrichten - infolgedessen werde auch der Milchpreis bald deutlich steigen.

Weltkriegskonsum und "Heldentod"-Anzeigen

Auch auf ein gewisses Kulturleben scheinen die Münchner trotz des Kriegs nicht verzichten zu müssen, wenn auch mit Abstrichen. So berichtet die Zeitung von einer Aufführung im Hof- und Nationaltheater: "Den Figaro am Mittwoch leitete - und zwar ohne die Möglichkeit einer Probe - zum ersten Male Otto Heß. Ausgezeichnet", heißt es da. Wohlwollend wird auch die Premiere einer neuen Operette im Theater am Gärtnerplatz aufgenommen: "Die Handlung des Stückes führt uns in das elegante, leichtlebige, ein wenig kapriziöse Wien der Gegenwart - vor dem Krieg."

Sekt "Feist Feldgrau" für die Festtage

Von "vollbesetzten Theatern, Kaffeehäusern und großen Gaststätten" über die Feiertage berichtet das Morgenblatt vom 27. Dezember, wobei die "Zahl der militärischen Weihnachtsurlauber" sich im Straßenbild gezeigt habe. Im Übrigen sei das Weihnachtsfest 1914 in München doch noch im "Zeichen des Winters erschienen": "Temperaturen um den Gefrierpunkt, dünne Schneedecke zumindest auf den Dächern und Anlagen."

Auf eine gewisse Alltäglichkeit deutet zudem der Anzeigenteil des Blattes hin, wenn dieser auch von der Kriegs-Lebenswirklichkeit geprägt wird. Ein Sekt der Marke "Feist Feldgrau" wird angeboten oder "Echte Norwegische Nanse-Ragge-Strümpfe, über den Stiefeln zu tragen". Es gibt Kriegswolle für Militär-Bedarfsartikel und "Feldpostbrief-Packungen" eines Medikaments namens Formamint, das "Schutz bei Erklärungen sowie gegen die meisten ansteckenden Krankheiten" bieten soll. Und das "Eden-Hotel, vormals Russischer Hof", wirbt mit kleinen Preisen "der Kriegsverhältnisse wegen".

Doch es gibt auch Anzeigen, die deutlich von einer härteren Kriegsrealität zeugen. "Vermisst! Offiz. Stellvertr. Hans Kiessling (...) wurde im Gefecht bei Lihona am 26. Dezember Vormittags zum letzten Mal gesehen", schreibt seine Familie und bittet um Auskünfte. Ein Ludwig Bieger, Prokurist der Chemischen Werke München, starb "in französischer Kriegsgefangenschaft in Cherbourg" infolge von im Kampf erlittenen Verwundungen.

Gefangene genommen, Material erbeutet

Herr Otto Herz, Tapezierer und Sergeant im 16. Res.-Inf.Reg. (List) 1. Komp starb "fern von seinen Lieben den Heldentod fürs Vaterland", und zwar im Alter von 32 Jahren, zurück bleiben Ehefrau Marie und Kind Otto. Der Bezirkslehrerverein München e.V. teilt mit: "Den Heldentod fürs Vaterland starben weiterhin aus unseren Reihen" - und listet elf Namen auf. Ein bis zwei Seiten mit Todesanzeigen werden an den Weihnachtstagen veröffentlicht, viele der Verstorbenen sind Kriegsopfer.

In den Berichten über das Kriegsgeschehen, die teilweise direkt von der Obersten Heeresleitung stammen, kommen die Toten hingegen nur am Rande vor, zumindest die eigenen. Während die Todesopfer der Engländer bei Kämpfen über die Weihnachtstage in Flandern auf 3000 beziffert werden, sind die Verluste der Deutschen nur "verhältnismäßig gering".

Ob bei Nieuport oder Lihon an der Westfront oder dem deutlich bewegteren östlichen Kriegsschauplatz: Überall werden "Angriffe abgewiesen", und Offensiven schreiten erfolgreich fort, Gefangene werden genommen und Material erbeutet. Wenig Gutes lässt da die schlichte Formulierung erahnen, die Lage in Nordpolen sei "unverändert".

Und sollte sich tatsächlich mal eine handfeste Niederlage nicht verschweigen lassen, wird sie zu einer bloßen Etappe, einem kurzzeitigen Rückschlag im insgesamt schlagkräftigen Fortschreiten Deutschlands und seines Verbündeten Österreich herabgewürdigt.

So musste die österreichisch-ungarische Armee im Dezember 1914 in Serbien herbe Verluste hinnehmen - an Menschenleben, an Gebiet und an Prestige -, als die gegnerische Armee sie in einer völlig unerwarteten Offensive zurückschlug. Dem österreichischen Befehlshaber Oskar Potiorek wurde daraufhin das Kommando entzogen - ein Ereignis, das sich schwerlich unterschlagen lässt.

In den Münchner Neuesten Nachrichten ist hierzu an Weihnachten zu lesen, der Rückzug der österreichischen Armee sei aus einem "Gebot der Klugheit erfolgt", die Kräfte seien "zurückgegangen, aber nicht geschlagen" und der Wechsel des Oberkommandos erfolge nur auf Potioreks "aus Gesundheitsrücksichten gestellte Bitte".

Treffen im Niemandsland - kein Thema für die Zeitung

Und doch, zwischen den Zeilen lässt sich auch die andere Version der Geschichte herauslesen. So erfährt der Leser eben trotzdem etwas von Gerüchten, die der Rückzug habe entstehen lassen - wenn diese auch "ganz unbegründet" seien. Ebenso ist von dem "unverblümten Vorwurf" die Rede, der Oberkommandierende habe schlicht die Lage in Serbien falsch eingeschätzt und sei deshalb abgesetzt worden - was natürlich sofort verworfen wird. Und der heutige Leser darf sich fragen, ob hinter all dem Pathos nicht doch eine kluge Taktik steckt, um die von Kriegsbeginn an herrschende, strenge Zensur zu umgehen.

Wovon der Leser aus der Zeitung hingegen tatsächlich fast nichts erfährt, ist das erstaunliche Geschehen, das sich in diesen Weihnachtstagen an manchen Abschnitten der Westfront abspielt. Deutsche und englische, aber auch deutsche und französische Soldaten steigen in der Nacht des 24. Dezembers und an den Folgetagen aus ihren Schützengräben und treffen sich im Niemandsland zwischen ihren Stellungen.

Sie tauschen Tabak und Cornedbeef aus oder spielen Fußball. Und sie nutzen den unautorisierten Weihnachtsfrieden, um ihre Toten zu begraben. Die "Fraternisierung mit dem Feind" wird auf der Führungsebene jedoch gar nicht gern gesehen - und schon bald per Befehl beendet.

Über die Zeitung lässt die Oberste Heeresleitung am 27. Dezember 1914 von dem Geschehen nur so viel wissen: "Eine von den Engländern zur Bestattung der Toten erbetene Waffenruhe wurde bewilligt." Die vermeintliche Schwäche eines spontan aufscheinenden Friedenswillens will der Generalstab offenbar lieber dem Feind in die Schuhe schieben - selbst an Weihnachten.

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