Archäologie im Eis:Gefrierschrank der Vergangenheit

Archäologie im Eis: Auf Flächen wie dieser in Langfonne in Norwegen finden Forscher Artefakte wie Pfeile, Kleidungsstücke und Jagdutensilien.

Auf Flächen wie dieser in Langfonne in Norwegen finden Forscher Artefakte wie Pfeile, Kleidungsstücke und Jagdutensilien.

(Foto: Oppland Bezirksbehörde)

Pfeilspitzen, Kochgeschirr und tausend Jahre alte Ski: Die globale Erwärmung drängt weltweit Gletscher zurück und legt dabei an vielen Orten Kulturgüter aus fernen Epochen frei.

Von Hubert Filser

Schmelzwasser schießt donnernd zu Tal. Der vergangene Winter in Norwegen war warm und trocken. Auch der Sommer hatte früh begonnen, und das Thermometer kletterte selbst in den bis zu 2000 Meter hohen Bergen von Jotunheinen bis auf 30 Grad Celsius. Aber nicht nur die ungewöhnliche Hitze des vergangenen Jahres setzt dem blaugrau schimmernden Eis zu, die globale Erwärmung nagt konstant am Gletscher und drängt dessen Zunge zurück.

Wo das Eis weicht, gibt es Dinge preis, die es sich in kälteren Zeiten einverleibt hatte. Die bis zu 50 Hektar großen Toteisflächen der norwegischen Gebirgszüge der Provinz Oppland legen Zeugnisse vergangener Kulturen frei, die sie oft Jahrtausende in ihrem Inneren konserviert haben: Lederschuhe aus der Bronzezeit, 3400 Jahre alt, 6000 Jahre alte Pfeile, ein 1300 Jahre alter Ski mit intakter Bindung.

Norwegen ist keine Ausnahme. Überall in den eisigen Gefilden Skandinaviens, Kanadas, in den Alpen und den Anden kommen in den schmelzenden Eismassen organische Materialien zum Vorschein, Kleidung, Leder, Holz, Tierschädel, Pflanzenreste, Tierdung oder in den Anden gar Eismumien. Ohne das schützende Eis wären sie längst vermodert und verrottet.

Hauptfundort ist Norwegen

Eine neue Disziplin in der Archäologie, die Gletscher- und Eisarchäologie, versucht, diese Kulturgüter systematisch zu untersuchen. Es gibt eigene Konferenzen, auf Facebook haben sich die Forscher unter "frozen pasts" zusammengeschlossen, ein neues Fachjournal wird veröffentlicht. "Die ganze Geschichte hat enorm an Bedeutung gewonnen", schreibt Martin Callanan von der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technik in Trondheim in Science (Bd. 346, S. 157, 2014).

Norwegen ist für die Archäologen ein Hotspot. Allein in der Provinz Oppland, zu der auch die Region um Jotunheinen gehört, wurden bislang fast 2000 Artefakte entdeckt. Das ist mehr als die Hälfte aller Funde aus Eisflächen weltweit. In den Alpen sind bisher nur 900 Artefakte entdeckt worden. Jeder Fund birgt Informationen über Kultur, Tierwelt, Jagdgewohnheiten und Techniken.

Es sind Fenster in die Vergangenheit - und die Hinweise sind präzise, denn die Schätze aus dem Eis sind fast nicht gealtert. Davon profitierten die Forscher schon etwa beim Sensationsfund Ötzi, den Wanderer im September 1991 in den Ötztaler Alpen fanden. Der Jäger aus der Bronzezeit ist mittlerweile die am besten untersuchte Leiche der Welt. Für ihn haben Forscher wie Albert Zink, Leiter des "Instituts für Mumien und den Eismann" in Bozen, eigene Techniken und Untersuchungsmethoden entwickelt und verfeinert. Und so gelang es den Wissenschaftlern aus Details eine längst verschwundene Lebenswelt fassbar zu machen.

Lückenlose Zeitreise bis zu den Wikingern

Archäologie im Eis: Ski und Bindung aus ferner Vergangenheit: Auf solchen Brettern rutschten Menschen vor etwa 1300 Jahren über den Schnee.

Ski und Bindung aus ferner Vergangenheit: Auf solchen Brettern rutschten Menschen vor etwa 1300 Jahren über den Schnee.

(Foto: Museum of Cultural History/Oslo University/V.Vike)

Das ist auch an den Funden des Nordens so faszinierend. Jahr für Jahr schmilzt das Eis, und gibt wie im Zeitraffer Jahrhundert für Jahrhundert frei. "In diesem Sommer war es hektisch", erzählt Martin Callanan. Das Jufvonne-Eis zog sich um 30 Meter zurück, so viel wie in den vergangenen fünf Jahren zusammen. "Wir haben hier bereits 700 Objekte gefunden", sagt der Archäologe Atle Nesje von der Universität Bergen. "Unsere Studien zeigen, dass das älteste Eis dort etwa 6600 Jahre alt ist." Dass die Schichten so weit zurückreichen, ist für die Archäologen ein Schatz. Er ermöglicht eine fast lückenlose Zeitreise von den Jägern und Sammlern bis zu den Wikingern.

Wenn die Schmelze im August ihr Maximum erreicht, campen die Forscher nahe den Eisflecken von Jotunheinen oder 100 Kilometer weiter nördlich bei der Ortschaft Oppdal. Dann ziehen sie Tag für Tag los, laufen über die nassen Felsen, vermessen jeden Fund per GPS und bringen ihn so schnell wie möglich ins Tal. "Am meisten Artefakte haben wir bislang aus der Zeit zwischen 100 und 800 nach Christus entdeckt", sagt Nesje. Damals zogen hier viele Jäger den Rentierherden hinterher, offenbar zu Pferd.

2011 tauchte im Lendbreen-Eisflecken nahe Jotunheinen beispielsweise ein gewobener Umhang eines Jägers auf. Das Kleidungsstück ist etwa 1700 Jahre alt und wurde immer wieder repariert. Marianne Vedeler, Kuratorin am Museum für Kulturgeschichte an der Universität Oslo, konnte eine spezielle Webtechnik bestimmen, den sogenannten Diamantköper.

Intakte Jagdwaffen statt Bruchstücke und Splitter

Es mag speziell klingen, doch erst solche Details gestatten den Archäologen einen tieferen Einblick in den technischen Entwicklungsgrad einer Gesellschaft und weisen auf mögliche kulturelle Einflüsse hin. So deutet die Nutzung des Diamantköpers auf einen kulturellen Austausch zwischen Nordeuropa und dem römischen Reich hin.

Gleiches gilt für die Machart von Pfeilen. Den bislang mit 5900 Jahren ältesten Pfeil fand der Gletscherarchäologe Lars Pilø im Eisfeld von Langfonne. Oft spüren Archäologen bei normalen Ausgrabungen in Höhlen oder Gräbern nur Bruchstücke weitgehend verwitterter Dinge auf. In den Eisflecken können sie die kompletten Jagdwaffen mit intaktem Holzschaft und umwickelter Tiersehne studieren.

Daraus lässt sich viel besser ablesen, wie sich handwerkliche Fertigkeiten entwickelten, seit wann die Jäger Birkenpech zum Kleben verwendeten, wann sie von Stein- oder Hornspitzen auf Metalle umstiegen und woher mögliche technologische Einflüsse kamen.

Gegenstände überdauern viele tausend Jahre im Eis

Manchmal lassen sich aus den Funden auch Jagdtechniken ableiten. Hier spielen die Eisflächen eine besondere Rolle. Die Rentiere zogen sich dorthin zurück, um den lästigen Mücken aus dem Weg zu gehen. Sie konnten zudem über den Eisflächen ihre Körpertemperatur besser kontrollieren. Das tun Rentiere und Karibus in Nordeuropa oder Kanada noch heute. Die Jäger von Jufvonne wussten das und entwickelten daraus Jagdkonzepte. Sie nutzten spezielle, an langen Stöcken befestigte Hölzer, die im Wind flatterten und so Tiere in ein gewünschtes Gebiet lotsten.

Die Verteilung und Häufigkeit der Hölzer in den Eisschichten zeigt, dass sich speziell zur Wikingerzeit die Jagd intensiviert hat. Die Wikinger pflegten intensive Handelskontakte bis nach England oder in die Türkei, wo sie Rentierfelle oder -geweihe etwa gegen Seidenstoffe eintauschten.

Auch anderswo in Europa suchen Archäologen systematisch nach Spuren vergangener Zeiten, in der Schweiz etwa in den zurückgehenden Gletschern oder entlang von Alpenpässen wie dem Schnidejoch in den Berner Alpen. Dort kamen knapp 5000 Jahre alte Leggins aus Hausziegenleder zum Vorschein, wie sie auch Ötzi trug, und fast die gesamte Ausrüstung eines jungsteinzeitlichen Jägers: Pfeile, Köcherteile aus Birkenrinde und ein Bogen aus Eibenholz.

Computermodelle helfen bei der Suche

Der älteste Fund vom Schnidejoch ist eine 6800 Jahre alte Holzschüssel. Sie ist ein Beleg, dass schon 1500 Jahre vor Ötzi Menschen im hochalpinen Raum auf 2750 Metern Höhe unterwegs waren. Archäologen um Albert Hafner von der Universität Bern ordnen die Schale eher sesshaften Bauern aus den Tälern zu und nicht Wildbeutern. Wahrscheinlich trieben Hirten Schafe oder Ziegen über den Pass auf die sommerlichen Weiden.

Bei ihrer mühsamen Suche im alpinen Gelände wenden die Archäologen auch zunehmend theoretische Modelle aus der Glaziologie an. So nutzt etwa Stephanie Rogers von der Universität Fribourg in der Schweiz Geoinformationssysteme, um mögliche Suchflächen in den Walliser Alpen einzugrenzen. Ihr Model GlaciArch reduziert die Suchfläche von 4500 Quadratkilometern aktueller Eisfläche auf wenige Quadratkilometer.

Allerdings sind die Bedingungen in den Alpen ungleich schwieriger. Das Gelände ist oft steiler und unwegsamer als in den Bergen Norwegens. Zudem gibt es in den Alpen kaum Eisflecken. Gletscher sind ständig in Bewegung, das Eis fließt und zermahlt alles. Wie mühsam die Suche sein kann, haben Forscher in diesem Sommer in den Schweizer Alpen erfahren. Überrascht von den Wetterkapriolen des August, mussten sie die geplante Suche abbrechen. In höheren Lagen gab es einen regelrechten Wintereinbruch.

Menschliche DNA ist kaum zu finden

Auch in Norwegen gibt es solche Wetterschwankungen, aber die Flächen sind meist leichter zugänglich. Und über kurz oder lang verschwinden sie alle, sodass die Forscher bald zu den frühesten Überresten vorstoßen werden. Diese könnten besonders spannend sein, weil sie mehr über die Lebensweise und kulturellen Besonderheiten der frühen nordischen Bewohner verraten, einer Gruppe, die offenbar vor etwa 7000 Jahren auch zunehmend nach Mitteleuropa kam. Dies verraten jedenfalls genetische Untersuchungen von Wissenschaftlern um Johannes Krause von der Universität Tübingen.

Sollten die norwegischen Forscher auf menschliche Überreste stoßen, könnten sie damit auch Erbgutuntersuchungen machen, um die Verbreitung genetischer Eigenschaften zu studieren. "Derzeit untersuchen wir die DNA aus Rentiergeweihen", sagt Nesje. Menschliche Knochen haben die schmelzenden Eisflecken von Oppland noch nicht freigegeben.

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