Frankreich nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo":Das Misstrauen wird wachsen

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Menschen trauern auf der Place de la République in Paris.

(Foto: Dominique Faget/AFP)

Das Attentat auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" kann Frankreich in eine tiefe gesellschaftliche Krise stürzen. Es stellt alte Dogmen radikal in Frage - vor allem für muslimische Einwanderer.

Kommentar von Rudolph Chimelli, Paris

Seit mehr als eineinhalb Jahrhunderten hat Frankreich kein so mörderisches Attentat erlebt wie den Überfall auf die Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo am Mittwoch. Noch ist nicht sicher, dass die Täter einen islamistischen Hintergrund haben, doch die meisten Analysen gehen schon jetzt davon aus.

Dafür sprechen Zeugenaussagen über das Aussehen der Todesschützen, der skrupellose Umgang mit schweren Waffen, wie er in den blutigen Konflikten des Nahen Ostens eingeübt werden kann, die angeblichen Allahu-akbar-Rufe - und vor allem das Ziel. Denn das getroffene Blatt war stets respektlos in seinem Spott über Religionen - über alle Religionen. Es hat oft - aber längst nicht nur - den Islam verhöhnt.

Eine Botschaft der Terroristen dürfte daher diese gewesen sein: Mit den christlichen Kirchen kann man derlei Spott treiben, vielleicht auch mit den jüdischen Orthodoxen. Mit dem Islam aber geht das nicht ohne Risiko.

Das Attentat kann das Land in eine tiefe Krise stürzen

Ein makabrer Zufall wollte es, dass just am Tag des Attentats der Roman "Unterwerfung" erschien. Darin beschreibt der Autor Michel Houellebecq ein fiktives Frankreich im Jahr 2022, in dem ein Muslim zum Präsidenten gewählt wird - und dies als Folge einer fortschreitenden Islamisierung der Gesellschaft.

Die Debatte über den Einfluss des Islam erregt derzeit auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern die Gemüter. Doch Houellebecqs erfundener Staatschef ist ein sanfter Muslim. Sogar die Sozialisten und die bürgerliche UMP empfehlen in dem Roman seine Wahl - als das kleinere Übel, denn er tritt gegen die Kandidatin der rechten Nationalen Front an.

Aus dieser Ecke eines gemäßigten Islams kommen die Mörder von Paris allerdings nicht. Eher spricht die barbarische Routine des Anschlags für ein anderes Szenario: dass sie unter den ersten heimkehrenden Dschihadisten aus Syrien und dem Irak zu suchen sind, die nun in Europa aktiv wurden, wie Sicherheitsleute es schon befürchtet haben.

Die Sprecher der islamischen Vereinigungen in Frankreich distanzieren sich mit Empörung von dem Attentat, das nicht nur den unglücklichen Journalisten, sondern der westlichen Werteordnung galt. Gleichwohl hat es nie eine solche Belastung für das Ansehen des Islam und seiner in der überwältigenden Mehrheit friedlichen Anhänger gegeben.

Das "Delikt der Drecksfresse"

Die Verbandssprecher wissen, dass viele Franzosen in der Versuchung stehen, den Islam, die verschiedenen radikalen Spielarten des Islamismus und den Terrorismus in einen Topf zu werfen. Aus einem der französischen Ausländerviertel zu kommen, in denen die Jugendlichen es ohnehin schwerer als Gleichaltrige andernorts haben, eine Arbeit zu finden, wird hinfort nicht leichter werden.

Es galt bisher als eine der Wahrheiten Frankreichs, die nicht statistisch oder empirisch hinterfragt werden durften, dass die neuen Einwanderer aus den islamischen Ländern in Nordafrika und Nahost mit ihren Kindern ebenso leicht zu integrieren sind wie einst Italiener, Polen oder Portugiesen. Trotz dieses Dogmas aber gibt es viele Millionen Franzosen, über die der Blick der Polizisten schon vor dieser Bluttat immer gleichmütig hinwegglitt.

Für die Muslime in Frankreich ist das Problem anderer Natur

Und es gab zugleich seit alters her das "Delikt der Drecksfresse" (Delit de sale gueule) - ein bestimmtes nahöstliches Aussehen, das reichte, um bei Kontrollen auf der Straße, auf Flughäfen und Bahnhöfen diskriminiert und überprüft zu werden. Das Misstrauen zwischen denen, die selbstverständlich als harmlos gelten, und denen, die automatisch Verdächtige sind, wird nun größer werden in Frankreich. Die wirtschaftliche Krise im Land macht das nicht einfacher.

Für die Muslime in Frankreich und in den Nachbarländern ist das Problem anderer Natur. Die Mehrheit, die unter dem Gesetz und in Ruhe leben will, hat es einfach, ihre Haltung offen auszudrücken. Entrüstung entspricht ihrer Interessenlage. Doch wie der berühmte Fisch im Wasser bewegen sich im Schatten dieser Mehrheit radikale Minderheiten. Sie verbreiten ihre Propaganda im Internet weitgehend unbehindert und wenden sich vor allem an junge Leute.

In diesen Kreisen wird es - ungeachtet des aktuellen Schocks - einen Solidarisierungseffekt mit den Attentätern geben. Es wäre nicht das erste Mal, dass Mörder für fanatisierte Spinner zu Helden werden, deren Beispiel diese dann folgen wollen. Eine Reihe von Anschlägen haben Frankreichs Sicherheitsdienste in letzter Zeit vereitelt. Diesmal ist es nicht geglückt.

Der Anschlag von Paris und seine Folgen enthalten Stoff für eine gewaltige gesellschaftliche Krise. Man muss lange zurückgehen in Frankreichs Geschichte, vielleicht bis zur Affäre Dreyfus, um eine ähnliche Situation zu finden.

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