Muslime distanzieren sich vom Terror:Zwang zum Abstand

Nach jedem Anschlag, den islamistische Terroristen begehen, werden Muslime mit der Forderung konfrontiert, sich von den Taten zu distanzieren. SZ.de dokumentiert, wie oft sie das nach den Anschlägen von Paris getan haben.

Von Gökalp Babayiğit

Jedem Menschen, der nicht verwirrt von hasserfüllten Gedanken durchs Leben läuft, blieben nur zwei Reaktionen auf den schockierenden Akt der Gewalt in Paris: die Taten und mithin die Täter zu verurteilen, den Tod der Opfer zu bedauern und Anteil an der Trauer zu nehmen. So hielten es Millionen Menschen aus aller Welt, so hielten es Politiker und Journalisten vor Mikrofonen und in Kommentarspalten, Prominente und Nichtprominente in den sozialen Medien, so hielten es Sportler und Schauspieler, so hielten es christliche und jüdische Amts- und Würdenträger.

Von Muslimen wird eine Distanzierung erwartet

Viele Menschen muslimischen Glaubens aber, ob Würdenträger oder Privatpersonen, ließen ihrer Anteilnahme auch noch eine Distanzierung folgen - beziehungsweise wurden allenthalben dazu von Nichtmuslimen aufgefordert: eine Distanzierung von der Bluttat der islamistisch motivierten Mörder und von deren Religionsauslegung, im Namen Allahs zu töten.

Distanzieren kommt vom lateinischen distare und bedeutet "voneinander wegstehen, auseinanderstehen, getrennt sein". Gefühlt liefen die ersten Statements muslimischer Würdenträger, die sich von dem grausamen Akt der Barbarei distanzieren zu müssen glaubten, schon über die Agenturen, ehe der genaue Hintergrund der Täter feststand. Auch auf SZ.de kam im Penzberger Imam Benjamin Idriz ein Muslim zu Wort und erklärte, dass die Taten von Chérif und Saïd Kouachi sowie Amedy Coulibaly nichts mit dem Islam zu tun hätten.

Dieser Reflex ist kein neues Phänomen: Seit 9/11 melden sich nach allen islamistisch motivierten Verbrechen Muslime zu Wort - und betonen, dass sie und die Täter auseinanderstehen.

Handeln sie aus innerem Antrieb oder fühlen sie sich genötigt? Zahlreich sind jene, die die Muslime direkt zur Distanzierung auffordern - in sozialen Netzwerken, an Stammtischen oder bei Demonstrationen von Menschen, die eine Islamisierung des Abendlandes fürchten. So als ob die Verurteilung der Taten und die Solidarität mit den Opfern nicht ausreichten, wenn man sie als Muslim zum Ausdruck bringt.

SZ.de hat gesammelt, wie oft Muslime sich nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo von der Tat distanziert haben. Diese Liste sollte dabei aber weniger als Beleg für die Haltung einer großen Mehrheit der Muslime zum islamistischen Terrorismus gelesen werden - die steht hoffentlich ohnehin schon fest. Immer wieder laut werdende Vorwürfe, Muslime würden nicht genug tun, um sich von den Terroristen abzugrenzen, ließen sich mit ihr aber gut entkräften. Sie sind den Aufforderungen eilfertiger nachgekommen, als man denkt.

Recherche: Katrin Langhans, Manuel Stark

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