Heterogene Gesellschaft:Belgiens gefährliche Anarchie

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Man kümmert sich nicht allzu sehr in Belgien: In Brüssel treffen die verschiedenen Kulturen aufeinander.

(Foto: AFP)

Ein Klima, in dem Radikalität gedeiht: Es gehört zum Wesen der belgischen Gesellschaft, sich nicht allzu sehr zu kümmern, auch nicht um frustrierte Muslime. Wo das enden kann, zeigen die Toten von Verviers.

Kommentar von Cerstin Gammelin, Brüssel

Es ist kein Zufall, dass Belgien mit 27 Kämpfern pro einer Million Einwohnern der Hauptlieferant für europäische Dschihadisten ist - und damit ein europäisches Zentrum auf der Karte des islamistischen Terrors.

Das kleine Land liegt bei den Nachbarn unterhalb der alltäglichen Wahrnehmungsschwelle; deutsche Reisende erinnern sich in der Regel lediglich daran, dass sie Belgien durchquert haben, um nach Frankreich zu kommen. Innerhalb der Landesgrenzen bietet Belgien die wohl europaweit besten Bedingungen für Leute, die inkognito leben wollen.

Sich nicht zu kümmern, ist belgische Wesensart

Die belgische Gesellschaft ist von einem anarchischen Grundverständnis geprägt und so heterogen wie keine andere in Europa. Keiner stößt sich ernsthaft daran, wenn es flämischen und wallonischen Parteien nicht gelingt, nach Parlamentswahlen eine Regierung zu bilden. Achselzuckend wird die kulturell-sprachliche Spaltung hingenommen. In Belgien gelten die drei Landessprachen Französisch, Niederländisch und Deutsch - aber es gibt keine Pflicht, diese drei in der Schule zu unterrichten. Man lebt mit den Unzulänglichkeiten.

Den Nährboden für die gelebte Anarchie bieten die föderalen Strukturen, die es unmöglich machen, den Durchblick zu bewahren. Neben den "Regionen" Flandern, Wallonien und Brüssel gibt es die nicht deckungsgleichen Landesteile der "Sprachgemeinschaften". Posten werden aus paritätischen Gründen doppelt besetzt. Weil aber kaum ein Beamter alle Sprachen gleich gut spricht, sondern am besten die eigene, fließt viel Energie in kleinliche Auseinandersetzungen mit den anderssprachigen Nachbarn.

Das beachtliche Ausmaß an Anarchie und Kleinlichkeit begünstigt das Klima, in dem Frust und Radikalität gedeihen. Es reicht aber nicht aus, um zu begründen, dass Belgien so viele Dschihadisten hervorbringt. Zur Wahrheit gehört auch, dass das kleine Land so viele Kulturen und Religionen beherbergt wie kein anderes.

In der Hauptstadtregion Brüssel leben mehr als einhundert Nationalitäten zusammen: wohlhabende EU-Beamte, illegale Migranten, Afrikaner aus der früheren Kolonie Kongo oder asiatische Geschäftsleute. Seit den Sechzigerjahren kommen immer wieder Flüchtlinge hinzu: Marokkaner, Türken, Kriegsflüchtlinge aus Tschetschenien und dem Nahen Osten, Kosovaren, Algerier.

Die Heterogenität in Herkunft und Glauben blieb übertüncht, so lange Belgien wirtschaftlich prosperierte. Als 2007 die Krise begann, fühlten sich Flüchtlingsfamilien, oft in zweiter oder dritter Generation, zunehmend ausgegrenzt. Damals wuchs in der muslimischen Bevölkerung die Unsicherheit über die eigene Zukunft, bei einigen der Frust. Wie überfordert die Gesellschaft war, diesen Frust abzubauen, zeigen dessen radikale Auswüchse - die gewaltbereiten Jugendlichen, die als Kämpfer nach Syrien gehen.

Die Toten von Verviers zeigen Belgien klare Grenzen auf. Es reicht nicht, fremde Kulturen ins Land und dann sich selbst zu überlassen. Islamistischer Terror lässt sich nur eindämmen, wenn die Frustrierten einen Lebenssinn entdecken. Dazu kann die Regierung beitragen, indem sie sich um Ausbildung und Beschäftigung über kulturelle und regionale Grenzen hinweg kümmert - und die Nachbarn, wenn sie aufeinander achten.

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