Anti-Terror-Einsatz:Wie der Dschihad nach Belgien kam

-

Polizei vor Muslimen in Brüssel (Archiv von 2012)

(Foto: AFP)

Der Anti-Terror-Einsatz im ostbelgischen Verviers soll einen Anschlag verhindert haben. In Belgien ist die Islamisten-Szene stark - von hier reisen viele Kämpfer zum Dschihad nach Syrien. Dafür gibt es Gründe, die nichts mit Religion zu tun haben.

Von Jannis Brühl, Verviers

Als die Schüsse im ostbelgischen Verviers fielen, war Lyf Etalo bei der Arbeit - und nicht bei seinem Sohn. Von Lüttich aus musste er das Kind am Telefon beruhigen: "Er hat mich angerufen, als er die Waffen hörte. Er sagte: Papa, ich habe Angst." Etalo eilte zurück in die Stadt nahe der deutsch-belgischen Grenze, wo die Polizei sich eine Straße neben seinem Wohnhaus ein Feuergefecht mit mutmaßlichen Terroristen lieferte und zwei von ihnen tötete. Am Morgen danach steht er am Sperrzaun, der den Einsatzort abriegelt, und schüttelt ungläubig den Kopf. Die vermummten Spezialeinheiten sind verschwunden, auch die Spurensicherer in den weißen Schutzanzügen. Eine Handvoll Polizisten mit dem Flammenlogo der Staatspolizei auf den Ärmeln bewacht noch die Straße.

Mit dem Einsatz verhinderte die belgische Polizei nach eigenen Angaben einen brutalen Terrorangriff, ein "zweites Paris", wie der Bundesstaatsanwalt es formulierte. Die beiden Getöteten sollen belgische Dschihadisten sein, die in Syrien gekämpft haben. Bei den Durchsuchungen seien insgesamt 13 Personen festgenommen worden, teilt die Staatsanwaltschaft auf einer Pressekonferenz mit - unter ihnen einige Syrien-Heimkehrer.

Die Vereitelung eines Anschlags ereignet sich vor dem Hintergrund einer jahrelangen Debatte über den Islam in Belgien. Gegen Belgiens Polarisierung auf islamistischer Seite einerseits und antiislamische Stimmungsmacher andererseits sind die deutschen Lautsprecher von Ruhrpott-Salafisten und Pegida bislang noch harmlos. Besonders drei Faktoren sind wichtig, um den Fall Verviers zu verstehen:

  • Dschihadistische Netzwerke: Aus keinem europäischen Land gingen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung so viele Kämpfer nach Syrien, um sich dem Islamischen Staat (IS) und anderen islamistischen Gruppen anzuschließen, wie aus Belgien. Mehr als 600 könnten es insgesamt sein, das wären auch in absoluten Zahlen mehr als Deutschland, und Dutzende Kämpfer sind wieder heimgekehrt. Ein wichtiger Kanal für die Ausreise war das Netzwerk "Sharia4Belgium", das vor allem Dschihadisten aus Antwerpen in den Nahen Osten brachte und 2012 zerschlagen wurde. Besonders unqualifizierte junge Muslime mit Vorstrafen wurden von dem Netzwerk angezogen. Auch nach der Zerschlagung gingen die Ausreisen weiter. Das Gefühl, dass radikale Islamisten in Belgien präsenter sind als in Deutschland, hat auch Etalo, Nachbar des nun abgesperrten Hauses in Verviers. Er hat 20 Jahre in Dortmund gelebt und sagt: "In Belgien treten die muslimischen Extremisten viel offener auf. In Deutschland kommt die Polizei schon bei Kleinigkeiten, hier können die machen, was sie wollen." Selbst wenn Verviers der wenig schmeichelhafte Ruf anhaftet, der erste belgische Ort zu sein, aus dem ein Kämpfer nach Syrien ging, ist dennoch überraschend, dass das Zentrum der Attentatsplanung ausgerechnet hier gelegen haben soll. Aus der Stadt ging höchstens eine Handvoll Männer nach Syrien, ergab eine Zählung des Historikers und Bloggers Pieter Van Ostaeyen vom November. Er verfolgt die Ausreise belgischer Dschihadisten genau. Als Zentren der Rekrutierung galten bisher die Metropolen Antwerpen und Brüssel, aus denen Van Ostaeyen zufolge 65 beziehungsweise 73 Kämpfer ausreisten.
  • Gefühl der Diskriminierung: Ein Hauptthema unter belgischen Muslimen, die sechs Prozent der Bevölkerung ausmachen, ist Diskriminierung bei der Arbeitssuche. Der Frust Einzelner erleichtert salafistischen Gruppen, sie zu radikalisieren. Selbst wenn sie die Sprache perfekt beherrschen, würden sie wie Ausländer behandelt, auch im Job-Center, klagen viele Muslime. Die Arbeitslosenquote unter Menschen, die außerhalb der EU geboren sind, war 2012 dreimal so hoch wie unter in Belgien geborenen, ergab eine Auswertung des Europäischen Netzwerkes gegen Rassismus, einem Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen. Amnesty International kritisierte 2012 in einem Bericht (PDF), dass der belgische Staat es Unternehmen leicht mache, Arbeitssuchenden wegen ihrer Religion einen Job zu verweigern. Insbesondere muslimische Frauen seien betroffen, die abgelehnt würden, weil sie ein Kopftuch trügen. Parteien wie Vlaams Belang werfen Muslimen im Gegenzug mangelnde Bereitschaft zur Integration vor. Auch der Bürgermeister von Verviers gab am Abend am Einsatzort zu, dass die hohe Arbeitslosigkeit junger Muslime ein Problem sei. Verviers hat ohnehin damit zu kämpfen, dass die einst florierende Textilindustrie abgewandert ist. In anderen Landesteilen sind es die Kinder und Enkel marokkanischer Einwanderer, die in den Sechzigern kamen, um in der Schwerindustrie zu arbeiten, die nun besonders von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Ein Facebook-Post der Extremistengruppe Sharia4Belgium, zitiert von Reuters, fasst das Gefühl der radikalisierten Jungen zusammen: "Die Tatsache, dass viele junge Menschen es vorziehen, im Bombenhagel zu leben statt im 'gastfreundlichen, warmen Flandern', ist ein weiteres Argument gegen die Regierung. Alles scheint besser zu sein als Belgien."
  • Polarisierende Politik: Die flämisch-nationalistische Partei Vlaams Belang feiert seit Jahren mit antiislamischen Slogans gegen Kopftücher oder die Schächtung von Tieren Erfolge. Sie war eine feste Größe im nationalen Parlament, zumindest bis zur Wahl 2014, als sie neun ihrer zwölf Sitze verlor. In regionalen Vertretungen ist Vlaams Belang nach wie vor stark. Doch mit dem fundamentalistischen Islam als Feindbild macht auch das Zentrum des politischen Spektrums Politik. Der Arabist und Journalist Chams Eddine Zaougui sagt: "Der belgische Staat hat eine harte Position gegenüber dem Islam eingenommen." Als besonders schädigend für das Verhältnis von politischem Mainstream und muslimischen Belgiern gilt das Verbot des Gesichtsschleiers, 2011 vom Parlament verabschiedet. Zaougui sagt: "Die symbolische Wirkung für viele Muslime war sehr groß. Sie fragten sich: Warum so viel Aufwand für eine Maßnahme, die nur wenige Dutzend Frauen im ganzen Land betrifft, und um die Diskriminierung kümmert sich die Politik nicht? Diese Leute fühlen sich belagert." Die in Verviers getöteten mutmaßlichen Dschihadisten sollen den Ermittlern zufolge Angriffe auf Polizisten geplant haben: Ihr Ziel waren also nicht unbequeme Journalisten wie in Paris, sondern der belgische Staat selbst. Am Freitag wurden Polizisten angewiesen, nicht mehr allein auf Streife zu gehen.

Überblick - wo überall Razzien durchgeführt wurden:

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: