Super Bowl im American Football:Alles gedreht in 133 irren Sekunden

Green Bay Packers at Seattle Seahawks

Mit letzter Kraft: Doug Baldwin (links) von den Seattle Seahawks fängt das Spielgerät.

(Foto: dpa)
  • In einem irren Spiel gewinnen die Seattle Seahawks 28:22 gegen die Green Bay Packers und ziehen ins Finale um den Super Bowl ein.
  • Kurz vor Schluss betrug der Rückstand noch zwölf Punkte.
  • Im Finale trifft Seattle auf die New England Patriots mit dem Deutschen Sebastian Vollmer.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Wenn Sportler nach Spielen um ihre Meinung gebeten werden, verwenden sie Floskeln wie "alles geben", sie sprechen über unmögliche Dinge wie "110 Prozent", und verstehen ihre Kunst darin, möglichst weit um das wirklich Wichtige herumzureden. Nach der Partie zwischen den Seattle Seahawks und den Green Bay Packers allerdings, da erklärten die Akteure außerordentlich prägnant, was gerade passiert war. Ein Wort genügte. "Unglaublich", sagte Seattles Spielmacher Russell Wilson. "Unglaublich", sagte Passempfänger Jermaine Kearse. "Unglaublich", sagte Trainer Pete Carroll. "Unglaublich", sagte selbst der gegnerische Quarterback Aaron Rodgers.

Es war tatsächlich unglaublich, was sich in Seattle ereignet hatte. 133 Sekunden vor dem Ende betrug der Rückstand der Seahawks 7:19, die einzigen Punkte in den 3467 Sekunden davor waren aus einem Trickspielzug (ein angetäuschtes Field Goal) resultiert. Wilson hatte den Ball vier Mal zu einem Gegenspieler geworfen, die Chance auf ein Comeback und eine erneute Teilnahme am Endspiel der nordamerikanischen Profiliga NFL hätte ein 110-Prozent-Sportler wohl mit "minus zehn Prozent" bezeichnet.

Am Ende der Partie stand da 28:22 auf der Anzeigetafel - für die Seahawks.

Seattle steht damit als Titelverteidiger erneut im Finale, das am 1. Februar im University of Phoenix Stadium ausgetragen wird - das ist zuletzt den New England Patriots in der Saison 2004/05 gelungen. Die Patriots sind nun auch der Gegner der Seahawks, die besiegten die Indianapolis Colts überraschend deutlich mit 45:7. Tom Brady schaffte dabei drei Touchdown-Pässe und 226 Yards Raumgewinn. Er führte seinen Verein zum sechsten Mal in seiner Karriere in den Super Bowl - das hat vor ihm noch kein Spielmacher geschafft. Drei Mal konnte er das Endspiel bislang gewinnen.

Zum Duell der deutschen NFL-Profis Sebastian Vollmer und Björn Werner kam es dabei nicht, weil Colts-Trainer Chuck Pagano kurzfristig auf Werner verzichtet hatte. Aus dem Umfeld des Vereins hieß es, dass die Playoff-Leistungen von Werner nicht überzeugend gewesen seien - er selbst wollte sich nicht dazu äußern. Vollmer steht nach 2012 (New England verlor damals gegen New York) zum zweiten Mal in seiner Laufbahn im Endspiel.

"Unglaublich", sagte also Seattles Spielmacher Wilson mit Tränen in den Augen: "Ich werfe vier Interceptions - und die Jungs glauben dennoch an mich und vertrauen mir, dass ich den Pass am Ende an den Mann bringe. Das zeigt, was wir für ein Haufen sind."

Diesem Haufen ist in der Tat eines der beeindruckendsten Comebacks in der Geschichte dieses Sports gelungen: Zuerst einmal lief Wilson in die Endzone, danach schnappten sich seine Kollegen den riskanten Onside Kick. Running Back Marshawn Lynch (insgesamt 157 Yards Raumgewinn) schaffte noch einen Touchdown, Wilson passte unter Druck zu einem Kollegen für zwei weitere Punkte. Plötzlich führte Seattle mit 22:19, doch Green Bay konnte mit einem Field Goal die Verlängerung erzwingen.

"Wir haben nicht aufgehört, an uns zu glauben"

"Unglaublich", sagte auch Carroll. Trotz des Rückstands habe er nie an eine mögliche Niederlage gedacht, "immer nur an den nächsten Spielzug." Die Wahl der taktischen Variante zeigt das Vertrauen, dass der Trainer in seine Akteure hat. Er ließ Wilson, der bis dahin gar schrecklich geworfen hatte, das Spielgerät zu Jermaine Kearse passen, der bis dahin gar schrecklich gefangen hatte. Aus 35 Yards. Wilson warf, Kearse fing - das Spiel war vorbei. Es war der einzige Touchdown-Pass für Wilson und der einzige gefangene Ball für Kearse.

"Unglaublich", sagte Kearse deshalb: "Ich habe während der Partie Bälle fallen lassen und war deshalb auf für Interceptions verantwortlich. Und dann geht der entscheidende Spielzug tatsächlich über mich - und Wilson kündigt das auch noch an." In der Tat hatte Wilson seinen Kollegen vor Beginn der Verlängerung mitgeteilt, dass er Kearse nun einen Wurf in die Endzone zu servieren gedenke und dass er fest damit rechne, dass der den Ball fangen würde. "Wir haben nicht aufgehört, an uns zu glauben", sagte Wilson danach: "Das klingt nach Klischee, in unserem Fall stimmt das aber tatsächlich."

Der Verlauf dieser Partie steht symbolisch für die komplette Saison der Seahawks. Die hatte knifflig begonnen, nach sechs Spieltagen lautete die Bilanz 3:3, lange Zeit war gar die Teilnahme an den Playoffs in Gefahr. Trainer Pete Carroll bat prägende Spieler wie Wilson, Lynch und Verteidiger Richard Sherman zum Rapport und erklärte ihnen, dass sie gefälligst Verantwortung zu übernehmen hätten und dass großartige Spieler dadurch zu erkennen seien, gerade in schwierigen Situationen großartig zu agieren.

"Dieses Gespräch hat unsere Saison verändert", sagt Wilson. Die Seahawks gewannen danach neun von zehn Partien, sicherten sich das Heimrecht für die kompletten Playoffs und ein Freilos in der ersten Runde. Am vergangenen Wochenende besiegten sie die Carolina Panthers locker mit 31:17 - nun gab es dieses beeindruckende Comeback gegen Green Bay. "Unglaublich", sagte darüber auch Packers-Spielmacher Aaron Rodgers: "Das wird mich mein Leben lang verfolgen. Wir waren die bessere Mannschaft, wir haben gut gespielt."

So war das tatsächlich, zumindest 3467 Sekunden lang. Dann begann diese unglaubliche Zeit im Stadion von Seattle.

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