Jugend von Chérif Kouachi in Treignac:Hätte er doch nur weiter Fußball gespielt

Jugend von Chérif Kouachi in Treignac: Chérif Kouachi (3.v.re.) als jugendlicher Fußballer in der französischen Provinz.

Chérif Kouachi (3.v.re.) als jugendlicher Fußballer in der französischen Provinz.

(Foto: Privat)
  • Chérif Kouachi lebte sechs Jahre lang im Jugendheim von Treignac, einem kleinen Ort weit entfernt von der Hauptstadt.
  • Viele Menschen erinnern sich heute fast liebevoll an den jungen Chérif, bevor er zum Attentäter auf die Satirezeitung Charlie Hebdo wurde.
  • Sie alle sind überzeugt: Die Quelle für den Hass und die Gewalt ist nicht in der französischen Provinz zu finden - "er hat sich in Paris verloren".

Von Christian Wernicke, Treignac

Der 19. September 1995 war für Chérif Kouachi ein Schultag wie viele andere. Und doch erklärt dieser frühherbstliche Morgen vor mehr als 19 Jahren, warum der Junge vielleicht nie eine Chance hatte - jedenfalls nicht auf einen guten Schulabschluss oder gar ein Studium. Chérif ist knapp 13 Jahre alt, zusammen mit seinem Bruder Saïd und zwei weiteren Geschwistern lebt er in einem Jugendheim in Treignac, einem 1400-Einwohner-Örtchen auf den einsamen Hügeln der Corrèze. Dort besucht Chérif Kouachi das Collège Lakanal, die Mittelschule im Ort.

Am 19. September 1995 steht "Bio" auf dem Stundenplan. Madame Ronfet, die Biologielehrerin, hat sich etwas Besonderes ausgedacht. Sie führt ihre 21 Schüler in den Wald. Zu den Farnen: Alle Kinder sollen Blätter sammeln, sorgfältig pressen und säuberlich in ein Botanik-Buch kleben. Solch kreative Aufgaben gefallen dem fröhlichen Jungen eigentlich. Mehr jedenfalls als abstrakte Mathematik oder Grammatik, erinnert sich die Lehrerin. Doch Chérif Kouachi macht - nichts. Kein Bock.

"So war er", seufzt Françoise Ronfet. Die pensionierte Biologielehrerin, inzwischen 73, sitzt am mächtigen Holztisch in ihrem halbdunklen Wohnzimmer. Aus dem Obergeschoss hat sie ihre alten Notenbücher geholt, das Archiv ihres Berufslebens. Nun fährt ihr rechter Zeigefinger über das Schuljahr 1995/96: Sie findet Namen und Noten aus der cinquième - B, nach deutscher Zählweise also die siebte Klasse. Und in der Zeile für "KOUACHI, Chérif" steht da unter 19/09 eine Doppelnull: "So war er, er hatte manchmal einfach keine Lust," beklagt die Lehrerin, "ich konnte ihm für diesen Test keinen einzigen Punkt geben." Ungenügend also, eine deutsche Sechs.

Jugend von Chérif Kouachi in Treignac: Die Noten von Chérif Kouachi in der siebten Klasse.

Die Noten von Chérif Kouachi in der siebten Klasse.

(Foto: Wernicke)

Die alten Noten wecken die Erinnerung der ergrauten Dame. "Praktische Tests lagen Chérif eigentlich, da war er manchmal sogar überdurchschnittlich." So wie im Oktober und November 1995, da schaffte Chérif dreimal - mit 12, 13 und sogar 15 Punkten - so etwas wie eine deutsche Drei. Aber dann kommen die roten Ziffern im Buch, die Noten für die schriftlichen Arbeiten: 3,5 und 4 von 20 Punkten - mangelhaft. Woran fehlt es - an Konzentration, an Motivation? "An beidem", sagt die Lehrerin und senkt betrübt ihren Blick. Sie deutet an: Viele der Waisen und jener Kinder aus zerrütteten Familien, die der Staat bis heute aus den Banlieues von Paris, Lyon oder Marseille in die Idylle von Treignac schickt, hätten chronische Lernprobleme in der Schule.

Trotzdem, Madame Ronfet hatte diesen Jungen gern. Das klingt durch, wenn sie fast zärtlich von seinem Lachen schwärmt. Oder wenn sie betont, wie beliebt Chérif gewesen sei: 1995 haben ihn seine Kameraden zum Klassensprecher gewählt", sagt sie fast stolz, "Sehen Sie, deshalb habe ich in jenem Jahr seinen Namen unterstrichen." Ja, "Chérif konnte mit jedem".

So ähnlich reden in Treignac all jene, die die Gebrüder Kouachi in den neunziger Jahren erlebt haben. Manche trauern, einzelne weinen. Alle im Ort sind schockiert, da sie am Morgen des 8. Januar, dem Tag nach dem blutigen Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo, aus dem Radio oder im Frühstücksfernsehen erfahren mussten: Die Täter, deren grobkörnige Konterfeis über den Bildschirm flimmern, lebten einst mitten unter ihnen. Niemand mochte es glauben, nicht die Lehrerin oder der Bürgermeister, weder der frühere Kamerad aus dem Heim noch der ehemalige Fußballtrainer. Wäre es nur Saïd gewesen, der introvertierte ältere der beiden Brüder - "vielleicht hätte ich nicht geschaltet," gesteht Lehrerin Ronfet, aber Chérif, den Sonnyboy und leidenschaftlichen Fußballer, "den haben alle sofort wiedererkannt".

Von 1994 bis 2000, sechs lange Jahre, wohnten die beiden Waisen hier in "La Fonda". So nennen sie in Treignac die "Fondation Claude Pompidou". Die sozial engagierte Stiftung hat an der Avenue Léon Vacher ein Jugendheim etabliert. In der steinernen Villa mit der Hausnummer 6 sitzt die Verwaltung, wo Heimleiter Philippe Muzzarelli bestätigt, die beiden Kouachi-Brüder seien "perfekt integriert" gewesen: "Kein Verweis, keine schwere Strafmaßnahme" seien von damals aktenkundig. Zwei der 30 Pädagogen von damals arbeiten noch im Haus. Aber sie wollen nicht mit Journalisten reden. "Die Kollegen quält das Gefühl, damals irgendwas übersehen zu haben", erzählt ein Mitarbeiter. Was? Schulterzucken, "Niemand weiß es."

Hier hat auch Jean-Henry Rousseau jahrelang gelebt. Er kannte die Kouachi-Brüder - aus dem Heim und vom A.S. Chambertoise, dem Fußballclub des Nachbarorts, für den alle drei kickten. Rousseau, heute 37, ist Metzger in Treignac. Die rechte Hand auf der Fleischtheke, zur Linken das Wandregal voll gelber Dosen mit Rillettes und hausgemachter Foie Gras, gerät er ins Grübeln.

"Das waren nette Jungs, Kinder ohne Geschichte"

Der hagere freundliche Mann hat nur Gutes über die Kouachis zu erzählen. Über die von damals. "Das waren nette Jungs, Kinder ohne Geschichte", sagt er, "es gab nie ein Problem." An Saïd erinnert er sich nur noch vage. Aber beim Namen Chérif leuchten seine Augen auf. "Ein toller Typ, immer gut gelaunt. Mit dem habe ich viel Fußball gespielt, manchmal auch Basketball. Immer fair!"

Die Quellen für den Hass, die Wut, die Gewalt der Kouachis sei "nicht hier, in Treignac" zu finden. Da ist sich der Metzger absolut sicher. "Der Bruch kam erst danach, als sie zurück nach Paris gegangen sind." Dem Satz stimmen ziemlich viele im Ort zu - und dafür dient ihnen der Herr Metzger als lebendiger Beweis. Denn auch Rousseau stammte aus der Hauptstadt, wie die Kouachis wurde er einst von den Behörden in die Provinz gesandt. Aber er ist, anders als Saïd und Chérif, dann geblieben: Rousseau hat seine Lehre gemacht, hat geheiratet und zwei Kinder gezeugt. "Es war deren Wahl, nach Paris zu gehen", sagt er ratlos, "in der Banlieue, da gleitet man schnell ab. Da schaffen es viele nicht."

Treignac bietet kleine Chancen, öffnet bescheidene Wege. Für Saïd zum Beispiel, den älteren der Brüder. Madame Ronfet, die Lehrerin, hat in ihrem alten Notenbuch nur ein paar Seiten weiter geblättert. 1996 ist das Schuljahr, da sie auch Saïd unterrichtete. "Sehr still und verschlossen" sei er gewesen, "kein guter Schüler". Auf dem alten Papier finden sich zwar reihenweise Punktzahlen über 10, also bessere Noten als bei Chérif: Saïd schwankte zwischen "knapp ausreichend" und "befriedigend". Doch das, so erläutert die Pädagogin, seien damals "keine sehr strengen Noten gewesen". Saïd saß in einer Art Nachhilfeklasse, seine Noten sollten genügen, dass er wenigstens auf die Hotelfachschule der Pompidou-Stiftung in Treignac gehen konnte. Seine letzte Note bei Madame Ronfet, erzielt am 30. April 1996, war zwar wieder nur eine 7. Wieder nur "knapp ausreichend". Aber es reichte. Ab Herbst 1996 durfte Saïd in Treignac kochen und kellnern lernen. Irgendwann in dieser Zeit, so bezeugen heute anonym Klassenkameraden, habe Saïd angefangen, regelmäßig zu beten.

Chérif, das Sonnenkind, träumt von Größerem. Er will Fußballprofi werden, am liebsten bei Paris Saint-Germain, seinem Heimatverein. Und er hat Talent, beweist auf dem Trainingsplatz und bei Auswahlturnieren, was ihm in der Schule fehlt: Motivation und Konzentration, Ausdauer und Beharrlichkeit.

In seinem Verein, dem kleinen A.S. Chambertoise, avanciert Chérif Kouachi bald zum Star. "Er war der Bengel, der mit den anderen Kids plaudert, während er den Ball 200 Mal mit Fuß, Knie und Kopf in der Luft hält - ohne Bodenberührung", lächelt sein damaliger Trainer Pascal Fargetas selig. Chérif Kouachi spielt seine Gegner auf dem rechten Flügel schwindelig, mit 17 Jahren läuft er in der ersten Mannschaft auf. Der Fußballlehrer, ein Bulle von Kerl mit Dickschädel und von Sonne gebräunter Glatze, bekommt feuchte Augen, als er sich erinnert: "Chérif war ein großes Talent."

Jugend von Chérif Kouachi in Treignac: Chérifs früherer Trainer Pascal Fargetas.

Chérifs früherer Trainer Pascal Fargetas.

(Foto: Wernicke)

Lehrerin Ronfet erinnert sich an einen Jungen, der die Welt mit seinem Lächeln gewinnt, aber doch ohne Halt, ohne Bindungen scheint: "Er war leicht zu beeinflussen, leicht manipulierbar." Trainer Fargetas sagt es noch drastischer: "Chérif hat Autorität immer regelrecht gesucht und sich ihr dann unterworfen."

Warum also ist Chérif Kouachi am Ende Terrorist geworden - statt Profi-Fußballer? Fargetas, inzwischen 55 Jahre alt und ein ebenso professioneller wie anerkannter Ausbilder, sucht die Erklärung in der Kindheit. Drei große Talente, so erzählt der Mann, habe er als Trainer betreut. Der Beste? "Gescheitert an sich selbst, Alkohol, Drogen - aus." Nummer zwei sei Chérif gewesen - "fleißig, brillant, ehrgeizig - aber ohne Halt, er hat sich in Paris verloren." Der Dritte, weniger talentiert und dennoch erfolgreicher? Laurent Koscielny, französischer Nationalspieler und heute Innenverteidiger beim Londoner Klub FC Arsenal. Mit Millionenvertrag. Jeder von den Dreien hätte es schaffen können, glaubt Fargetas. "Aber nur Koscielny hatte seine Eltern an seiner Seite, die ihn unterstützt und geführt haben", sagt der Coach, "das fehlte den anderen beiden."

Fargetas hat sich bemüht. Die Kouachi-Brüder gingen in seinem Haus ein und aus: Lachten, aßen, spielten. Vergebens.

Saïd beendet im Juni 2000 seine Hotelfachausbildung, immerhin, mit Diplom. Er beschließt, zurück nach Paris zu gehen. Chérif, inzwischen in der Ausbildung zum Elektromechaniker und noch immer Fußball-Fanatiker, zögert. Aber im November schmeißt er hin und folgt seinem älteren Bruder in die Hauptstadt.

Trainer Pascal Fargetas hält anfangs Kontakt. Er ermuntert seinen Schützling, weiter zu trainieren. Oder zurückzukommen in die Corrèze, um von hier eine Karriere in Nordafrika zu starten. Oder um selbst Trainer zu werden. Irgendwann anno 2011 klingelt das letzte Mal das Telefon in der Corrèze. "Ich mach' jetzt Rap", teilt Chérif mit. Fargetas wusste seither. "Ich hatte ihn verloren."

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