Radikalisierung in Europa:Die Hass-Spirale stoppen

Ob Dschihadisten und rechte Scharfmacher sich durchsetzen, hängt von uns, den Bürgern, ab. Wir dürfen keine Kompromisse machen. Aber wir sollten Signale senden - nicht nur an Sonntagen.

Von Timothy Garton Ash

Nein, nicht auch noch das. Drei Tage vor dem Mord an einem jungen Eritreer in Dresden hatte jemand ein Hakenkreuz an seine Wohnungstür geschmiert. An dem Abend, an dem er erstochen wurde, es war ein Montag, veranstaltete in der wunderbaren Stadt an der Elbe die fremdenfeindliche Bewegung, die weltweit als "Pegida" bekannt ist, ihre bisher größte Demonstration.

In Belgien folgte ein vereitelter islamistischer Anschlag unmittelbar auf das Charlie-Hebdo-Massaker in Paris, jetzt versuchen Politiker der extremen Rechten damit Stimmen zu sammeln.

Die Gefahr ist sehr real, dass eine Spirale in Gang gesetzt wird, in der radikalisierte Minderheiten - Moslems und Anti-Moslems - verängstigte Mehrheiten - nicht-islamisch ebenso wie islamisch - in die falsche Richtung ziehen. Nur das tagtägliche Bemühen jedes Einzelnen von uns kann das verhindern.

In Dresden bekommt "Wir sind das Volk" eine neue Bedeutung

Der Fall Dresden ist glücklicherweise nicht typisch für Deutschland. Dresden liegt im idyllischen Herzen einer ungewöhnlichen Ecke des früheren Ostdeutschlands. Anders als die meisten großen Städte Westdeutschlands, hat die Stadt wenig Einwanderung und wenig Erfahrung mit kulturellen Unterschieden. In kommunistischen Zeiten war diese Ecke bekannt als "Tal der Ahnungslosen", weil seine Bewohner kein westdeutsches Fernsehen empfangen konnten.

Berichte legen nahe, dass bis jetzt die meisten Teilnehmer der Pegida-Demos mittleren Alters sind und daher geformt wurden durch das abgeschirmte Leben im früheren Ostdeutschland. Seit der Wiedervereinigung zeichnet sich Sachsen durch ungewöhnlich hohe Stimmanteile für Parteien der äußersten Rechten aus: Einige glauben sogar , dass die anglo-amerikanischen Bombenangriffe 1945 dazu beigetragen haben, indem sie die Geschichte vom "Opfer Dresden" unterstützten.

Die Protestierer haben dem Slogan der Revolution von 1989 - "Wir sind das Volk" - eine andere Bedeutung gegeben: "Volk" nicht mehr im Sinne demokratischer Selbstbestimmung, sondern ethnisch definiert, so als komme es von Adolf Hitler.

Wer sind die "unpatriotischen Europäer"?

Schon der Name der Bewegung strahlt Anachronismus aus. Pegida steht für "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes". Nach dem Ersten Weltkrieg hatte Oswald Spengler in seinem monumentalen Traktat vom "Untergang des Abendlandes" gesprochen. "Patriotische Europäer", das strahlt auf seltsame Weise Schüchternheit und Bestimmtheit aus. Man fühlt, dass sie eigentlich "christlich" sagen wollten. Und auch "weiß". Weiß mit braunen Rändern.

Timothy Garton Ash erhält Karlsmedaille

Pegida hat die Parole "Wir sind das Volk" in einem ethnischen Sinne umgedeutet, schreibt Timothy Garton Ash.

(Foto: Henning Kaiser/dpa)

Wer, möchte man fragen, sind die unpatriotischen Europäer? Einer der Organisatoren von Pegida, Thomas Tallacker, postete 2013 auf Facebook: "Was wollen wir mit dem zu 90 Prozent ungebildeten Pack was hier nur Hartz 4 kassiert und unseren Sozialstaat ausblutet." Und nach einer lokalen Messerstecherei meinte er: "Bestimmt wieder ein in seiner Entwicklung gestörter oder halb verhungerter Ramadan-Türke." Ein sympathischer Kerl, dieser Tallacker.

Unterdessen twitterte in Paris Jean-Marie Le Pen auf Englisch: "Ruhig bleiben und Le Pen wählen".

Kampf um ein ziviles Europa - auch an Werktagen

Die Tatsache, dass sich der ruhige, höfliche Muslim, der die Pizza brachte (wie es einer der Kouachi-Brüder tat) als islamistischer Mörder entpuppte, nährt den Verdacht sogenannter normaler Leute gegen Muslime. Britische Moscheen und islamische Zentren berichten über einen starken Anstieg von Drohungen. Und es gibt viele Politiker, Journalisten und Volksverhetzer, die den Verdacht gegen Muslime immer wieder aufkochen.

Dies wird neue Angst unter Europa Muslimen erzeugen und, wenn wir nicht sehr aufpassen, eine kleine Minderheit unter ihnen weiter radikalisieren. Ironischerweise wurde die Pegida-Demo diese Woche abgesagt wegen einer offenbar dschihadistischen Drohung gegen einen ihrer Führer.

Zu den Symptomen der Radikalisierung gehören antisemitische Angriffe, die heute mehr von extremen Muslimen als von den gewohnten Hakenkreuz-schmierenden Antisemiten kommen. Es ist furchtbar zu sehen, dass sich französische Juden, Mitglieder einer der größten und ältesten jüdischen Gemeinschaften in Europa, in Frankreich nicht mehr sicher fühlen. Solche antisemitischen Angriffe nähren neue Angst vor Muslimen, die dann ...

"Bis hierhin und nicht weiter."

Wie können wir den Teufelskreis stoppen? Normalerweise haben sich Europas Mitte-rechts-Parteien, die CDU etwa oder die britischen Konservativen, so weit nach rechts orientiert, dass sie Wähler zurückgewinnen und sie daran hindern konnten, eine unabhängige politische Kraft zu formen. Bis zu einem bestimmten Punkt ist das legitim. Aber jenseits dieses Punktes muss man sagen, was Kanzlerin Merkel tat: "Genug. Bis hierhin und nicht weiter."

Zur Person

Timothy Garton Ash, 58, ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford. Dort leitet er gegenwärtig das Projekt freespeechdebate.com.

Was Politiker und religiöse Führer sagen, ist ebenso wichtig wie das, was die Medien darüber berichten. Aber am Ende kommt es auf uns, die Bürger, an. Der große französische Historiker Ernest Renan schrieb, eine Nation sei ein "tägliches Plebiszit".

Am Sonntag nach den Angriffen auf Charlie Hebdo gaben mehr als drei Millionen Menschen auf den Straßen Frankreichs ein wunderbares Beispiel dafür, wie eine große europäische Nation auf so eine Herausforderung reagiert. Muslimische Franzosen und Französinnen schenkten ihren jüdischen, christlichen und atheistischen Landsleuten weiße Rosen. Dann sangen sie die Marseillaise.

Wunderbar, aber das war nur ein Sonntag. Der Kampf um ein ziviles, inklusives Europa wird an all den anderen Tagen, den Werktagen, den grauen Tagen gewonnen oder verloren werden.

In London gibt es ein wunderbar durchmischtes "wir"

Als Premierminister David Cameron von der Demonstration in Paris heimkam, griff er ein Plakat heraus, das er gesehen hatte: "Je suis Charlie. Je suis flic. Je suis Juif." ("Ich bin Charlie, ich bin Polizist, ich bin Jude.") Auf der Liste fehlte etwas: "Je suis Ahmed". Schließlich war einer der von den Kouachi-Brüdern kaltblütig ermordeten Polizisten ein muslimischer Franzose mit Namen Ahmed. Der Hashtag "#Je suis Ahmed" tauchte auf, und ich habe ihn sofort selbst benutzt.

Wir nicht-muslimische Europäer dürfen keine Kompromisse bei der Substanz der offenen Gesellschaft, etwa der Meinungsfreiheit machen, aber wir müssen kleine Signale schicken, sowohl online als auch bei persönlichen Begegnungen im Alltag. Das beste Signal ist dabei zu zeigen, dass gar kein besonderes Signal notwendig ist.

Das ist es, was fast immer in London passiert: Man betrachtet es als selbstverständlich, dass muslimische Briten so britisch sind wie alle anderen - dass es in Wirklichkeit kein "sie" gibt, nur ein größeres, wunderbar durchmischtes "wir", Auf diese Weise werden wir Renans tägliches Plebiszit gewinnen. Auf diese Weise werden wir auch Vampire wie Pegida loswerden.

Übersetzung: Nikolaus Piper

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