Wissenschaftsgeschichte:Millionenschwere Schätze auf dem Dachboden

Bruchstücke von Meteoriten, ägyptische Sternenuhren, Skelette doppelköpfiger Wesen: An Deutschlands Hochschulen lagern wertvolle Objekte, doch viele sind vergessen. Jetzt sollen sie geborgen werden.

Von Ralf Steinbacher

Niemand ahnte, welcher Schatz da auf dem Dachboden der Aula lag. Dabei war er gar nicht zu übersehen mit seinen zwei Meter zwanzig auf zwei Meter zwanzig. Eines Tages schaute ein Hausmeister der Universität Tübingen genauer hin. Dabei entdeckte er ein Gemälde, das einst Wissenschaftsgeschichte geschrieben hatte: ein extrem detailreiches Ölbild der Mondoberfläche. Der Offenburger Fotograf Julius Grimm hatte es im 19. Jahrhundert nach Studien mit dem Teleskop angefertigt. Im Jahr 1895 war dieses Bild eine Sensation für die Öffentlichkeit gewesen. Erst als Ernst Seidl, Direktor des Museums der Universität und zuständig für die Sammlungen, Jahre später in den USA ein wesentlich kleineres Mond-Gemälde Grimms aufspürte, wurde klar, wie wertvoll der Fund war: "Es stand für 1,6 Millionen Dollar zum Verkauf." An einen Erwerb wäre überhaupt nicht zu denken gewesen. Doch das war ja nun auch gar nicht mehr nötig.

Im Januar 2011 hatte der Wissenschaftsrat die Universitäten zum Erhalt ihrer wissenschaftlichen Sammlungen aufgerufen. Es war höchste Zeit, wie die Experten des wichtigsten Beratergremiums von Bund und Ländern in Forschungsfragen befanden: "Viele Sammlungen lagern unbekannt und ungenutzt in Abstellräumen, wo weder ihr dauerhafter Erhalt noch ihre wissenschaftliche Bearbeitung möglich sind. Womöglich liegen hier noch ungeahnte Schätze." Sammlungen, mahnte der Wissenschaftsrat an, seien eine "wesentliche Infrastruktur für die Forschung". Seitdem werden viele vergessene Regale in den Hochschulen entstaubt und durchforstet.

Keine Universität in Deutschland verfügt über mehr Sammlungen als die Eberhard Karls Universität Tübingen. Die Koordinierungsstelle für wissenschaftliche Universitätssammlungen in Deutschland, 2012 auf Empfehlung des Wissenschaftsrats hin gegründet, listet alle rund 800 Sammlungen bundesweit auf, Tübingen hat gut 45. Dort finden sich viele bemerkenswerte Objekte: etwa ein Bruchstück des Ensisheimer Meteoriten, der 1492 im Elsass einschlug - der älteste dokumentierte Vorfall dieser Art in Europa. Kaiser Maximilian I. hielt den Vorfall für das Werk des Teufels, ließ den Stein in Ketten legen und in der Pfarrkirche aufhängen. Nicht bei den Amerikanern, sondern ausgerechnet in einer Garage des Astrophysikalischen Instituts steht das einzige Weltraumteleskop, das zweimal im All war und wieder heil auf die Erde zurückkehrte: Orfeus war in den deutschen Satelliten Astro-Spas eingebaut und 1993 sowie erneut 1996 mit dem Space Shuttle für fünf und für 14 Tage ins All geflogen.

Die Stammbäume einer fossilen Schnecke sind der erste Beleg für Darwins Evolutionstheorie, sie stammen aus der Dissertation von Franz Hilgendorf aus dem Jahr 1863. Zeitgenossen bekämpften die Erkenntnisse des Forschers erbittert. Im Tresor wird das Poupou verwahrt, ein geschnitztes Maori-Kunstwerk, das der Entdecker James Cook 1771 aus Neuseeland mitgebracht hatte. Es gelangte 1937 in den Besitz der Tübinger Ethnologen, die aber erst 1996 erfuhren, um welchen Schatz es sich handelt. Von Cooks erster Reise gibt es außerhalb Großbritanniens kaum noch Mitbringsel.

Der Kunsthistoriker Seidl leitet das Museum der Universität Tübingen (Mut), das als Dachorganisation für alle Sammlungen der Hochschule zuständig ist. Das Tübinger Konzept nahm im Grunde schon 2006 vorweg, was der Wissenschaftsrat später empfahl: ein Verantwortlicher, eine Dachorganisation, digitale Erfassung der Sammlungen. Die Objekte sollten möglichst dort bleiben, wo sie hingehören: an den Instituten, wo die Experten sie für Forschung und Lehre nutzen können. Die Eberhard Karls Universität besitzt zudem ein echtes Museum, das der Öffentlichkeit zugänglich ist. Von Seidls Büro, das in der historischen Altstadt liegt, sind es nur ein paar Minuten zu Fuß hinauf zum Schloss Hohentübingen und den Ausstellungen.

Links hinter einem prächtigen, frühbarocken Tor ist der Eingang, eine Wendeltreppe führt in den ersten Stock. Hier werden mit die ältesten Zeugnisse für bildende Kunst in der Geschichte der Menschheit ausgestellt: die berühmten geschnitzten Mammut-Elfenbein-Figuren aus der Vogelherdhöhle, etwa 38 000 Jahre alt. Damals wurden die Steinzeitmenschen kreativ: Sie bemalten Höhlenwände und fertigten wohl zum ersten Mal Kunstobjekte und Musikinstrumente an. Einige von ihnen sind im Ausstellungsraum im Schloss zu sehen. Die nur wenige Zentimeter großen Figuren, darunter ein Löwe, ein Bär, ein Mammut, stehen auf schwarzen Stelen, ein Lichtspot setzt sie in Szene. Prunkstück ist das Pferd, Körper und Hals anmutig geschwungen. "Welch große Kunst, das Wesen des Tieres so zu erfassen!", schwärmt Seidl. Wofür es geschnitzt wurde, ist nicht bekannt, "es könnte aber pseudoreligiösen oder schamanischen Zwecken gedient haben". Das wäre die Metaebene: "Wenn das stimmt, dann haben wir hier auch den ersten Nachweis für die Religiosität des Menschen."

Nicht weit entfernt sind weitere Schätze zu besichtigen. Die altägyptische Opferkammer aus Gizeh etwa wurde der Universität von Ernst von Sieglin geschenkt, einem Mann, der durch Seifenpulver zum Millionär wurde und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Ausgrabungen in Ägypten finanzierte. Ausgestellt ist unter anderem ein extrem seltener ägyptischer Sarg mit einer Sternuhr, die astronomische Tabellen von Standorten der Sterne und Sternbilder mit der Götterwelt verknüpft.

Doch was ist mit den unbekannten oder bedrohten Schätzen, den Sammlungen, die womöglich noch in irgendwelchen Schränken vergammeln? Um sie zu retten, erfanden die Tübinger das Drittmittelprojekt Mammut (Museologische Aufarbeitung der Museumsbestände am Mut), das vom baden-württembergischen Wissenschaftsministerium gefördert wird. In einjährigen Praxisseminaren erfassen Studenten die Objekte, bearbeiten und inventarisieren sie und stellen sie dann der Öffentlichkeit vor, in Ausstellungen und durch Publikationen.

Ernst Seidl

"Welch große Kunst, das Wesen der Tiere so zu erfassen! Vielleicht haben wir hier auch den ersten Nachweis für die Religiosität des Menschen."

Auch die medizinhistorische Moulagensammlung der Universitätshautklinik soll so archiviert und erhalten werden. Moulagen sind Abformungen oder Wachsmodelle erkrankter Körperteile, aus einer Zeit, als die Farbfotografie noch keine brauchbaren Ergebnisse lieferte und an Computersimulationen noch nicht zu denken war. Sie haben immer noch ihren Nutzen in der Lehre. "Viele Anatomieprofessoren arbeiten in der Lehre lieber mit Modellen", erklärt Seidl, "weil sie genau das herausstellen, was wichtig ist." Insbesondere jener Sammlungsteil, der Moulagen von Tropenkrankheiten darstellt, gilt unter Fachleuten als wichtiges Zeugnis der Medizin-Geschichte.

Dass Studierende derart eingebunden werden, hält die Leiterin der Koordinierungsstelle für wissenschaftliche Universitätssammlungen an der Humboldt-Universität zu Berlin, Cornelia Weber, für beispielhaft. In ihrer Einrichtung erarbeitet ein interdisziplinäres Team Strategien, um das Potenzial von Sammlungen sichtbar und sie für Forschung und Lehre nutzbar zu machen. Es vernetzt bundesweit Akteure, entwickelt Handreichungen und veranstaltet Workshops, denn - so Weber - "welcher Professor, der mit einem Lehrstuhl erstmals eine Sammlung übernimmt, kennt sich mit Objekten aus?"

Die Einrichtung, die vom Bundesforschungsministerium gefördert wird, nahm ihre Arbeit erst 2012 auf. "Damals gab es nur wenige Sammlungsbeauftragte an den Universitäten, seither ist viel passiert." Weber und ihre Mannschaft wollen das Bewusstsein dafür schärfen, dass Sammlungen für die Forschung erhalten werden müssen, auch wenn sie auf den ersten Blick vielleicht zu nichts mehr taugen, "aber wir können heute ja nicht wissen, welche Fragen wir in 50 Jahren an sie stellen möchten". Alte naturwissenschaftliche Sammlungen könnten heute etwa für die Klimaforschung genutzt werden. Neue Forschungsmethoden könnten auch neue Erkenntnisse liefern.

Ein Beispiel dafür sind die Meckelschen Sammlungen an der Universität Halle, entstanden im 18. und 19. Jahrhundert. Sie gehören mit ihren rund 8000 Präparaten von Mensch und Tier zu den größten anatomischen Sammlungen Europas. Speziell Johann Friedrich Meckel der Jüngere (1781 - 1833) interessierte sich für Missbildungen, sammelte Skelette, Köpfe, Körper und Organe. Verkrüppelte Füße sind da zu sehen, Skelette doppelköpfiger Wesen, Hände mit sechs Fingern, absurd verdrehte Wirbelsäulen. Obwohl die Objekte alt sind, seien sie auch heute noch wertvoll für die Forschung, betont Rüdiger Schultka, der Leiter der Sammlungen: "Wir wollten wissen, ob wir in der DNA Anhaltspunkte für bestimmte Syndrome finden können." Solche Krankheitsbilder mit Fehlbildungen habe man damals nicht entsprechend diagnostizieren können. Um mehr zu erfahren, sei Alt-DNA untersucht worden - gewonnen aus Nabelschnüren von Feuchtpräparaten. Nun können sich Genetiker mit den Daten beschäftigen.

Es sind Wissenschaftler wie Schultka oder Seidl, die sich mit viel Herzblut für die Universitätssammlungen einsetzen. Doch nicht jedes Objekt lässt sich retten, und manchmal kommt einfach eins zum anderen. Die Herstellung von Instrumenten, die bei Weltraumexperimenten eingesetzt werden, hat in Tübingen Tradition. Da gibt es etwa einen 1-Meter-Spiegel für ein Teleskop, der so extrem präzise geschliffen ist, dass seine höchste Erhebung einer nur einen Millimeter hohen Welle auf dem Bodensee entspräche. Beschichtet war der Spiegel mit dem Edelmetall Iridium - jedenfalls solange, bis eine Reinigungsfrau das Instrument mit einem Staubtuch bearbeitete.

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