Ja zu den "Kulturhauptstädten Europas":Prunken mit der Provinz

Lesezeit: 3 min

Karneval in Patras: Aus dem historischen Treiben gingen in der griechischen Hafenstadt angesehene Theater hervor. Seit Patras im Jahr 2006 Kulturhauptstadt Europas war, weiß man das auch außerhalb der Stadt. (Foto: AFP)

Verschwenderisch und ohne nachhaltiges Konzept: Die Kulturhauptstädte Europas müssen sich oft Vorwürfe gefallen lassen, die einer näheren Überprüfung nicht standhalten. Gerne wird auch ihre Provinzialität moniert. Doch wer die kritisiert, hat Europa nicht verstanden.

Von Paul Katzenberger

Es ist die pure Ignoranz: Zwei Städte starten in ihr Jahr als Kulturhauptstadt Europas und kaum einer bekommt es mit. Die Feierlichkeiten im belgischen Mons am vergangenen Wochenende und im tschechischen Pilsen eine Woche zuvor tauchten in den deutschen Medien allenfalls als Randnotiz auf.

Nicht nur mit Desinteresse haben die Kulturhauptstädte Europas zu kämpfen, oft begegnet man ihnen sogar mit barscher Kritik - wie kürzlich der Schriftsteller Marko Martin, der sogar fordert: "Erspart uns Kulturhauptstädte!" Es sei höchste Zeit, mit diesem pompösen Defilee von Konzepten und Ideen aufzuhören, die Millionen von EU-Steuergeld verschlingen würden.

Vorwürfe von Verschwendung und fehlender Nachhaltigkeit werden häufig mit der Schmähung garniert, hier würden Provinznester wie Mons, Pilsen, das schwedische Umeå oder das slowenische Maribor künstlich mit einer Bedeutsamkeit aufgepumpt, die ihnen nicht zustehe.

Die monierte Provinzialität ist zwar kaum zu bestreiten, doch genau dafür müssen sich die Kulturhauptstädte am allerwenigsten schämen. Wurden bis in die Neunzigerjahre gerade die Metropolen als Kulturhauptstädte ausgerufen, was ihnen dann allzu oft sogar lästig war, so sind es mittlerweile zum Glück die zweiten, dritten oder vierten Städte eines Landes, die diesen Status erlangen. Abgesehen davon, dass sie die Investitionen in die Infrastruktur, die mit dem Kulturhauptstadtstatus einhergeht, besser gebrauchen können als die großen Metropolen, kommt mit der Stärkung solcher Großdörfer auch ein zutiefst europäischer Gedanke zum Tragen. Er gesteht dem europäischen Hinterland das zu, was es so einzigartig macht: dem Kontinent seine Vielfalt zu verleihen.

Kleine Wunder von großer Wirkung

Der Mersey Sound, mit dem die Beatles die Welt eroberten, entwickelte sich nicht in London, sondern in Liverpool. Wer in Bayern Unesco-Welterbestätten sucht, der findet sie nicht in München, sondern beispielsweise in Bamberg. Und auch in Pilsen und Mons lassen sich ungeahnte Zeugnisse der Kultur mit europaweiter Bedeutung entdecken, etwa die erste große Retrospektive zu Ehren des tschechischen Trickfilmpioniers Jiří Trnka ("Walt Disney des Ostens"), einem Sohn Pilsens.

Oder die Ausstellung, die Mons für Vincent van Gogh ausrichtet und die den Post-Impressionisten von einer Seite zeigt, die man von ihm bislang nicht kannte: In der Borinage, der Industrielandschaft um Mons, begann er mit dem Malen und gab seinem Leben damit die entscheidende Wende. Wem das nicht reicht, der kann in der Gegend noch viel mehr erkunden - sie bietet nicht weniger als zwölf Unesco-Welterbestätten. Dass Europa ein Potpourri verschiedenster Kulturregionen ist, wird erst in der Konfrontation mit solch kleinen Wundern erfahrbar.

Was die Vorwürfe der Verschwendung und der fehlenden Nachhaltigkeit anbelangt, so sind sie bei genauer Betrachtung so pauschal wie oft falsch. Undifferenziert ist der Verschwendungsvorwurf allein schon deswegen, weil es zwischen den Budgets der Kulturhauptstädte gigantische Unterschiede gibt: Liverpool standen 2008 unfassbare 1,1 Milliarden Euro zur Verfügung, trotzdem taten sich Haushaltslöcher auf - die Stadt sparte plötzlich bei Grundbedürfnissen wie der Altenpflege. Da wurden zweifellos stolze Summen verpulvert.

Dem steht in Pilsen nun allerdings ein Budget von vergleichsweise bescheidenen 20 Millionen Euro für das Kulturprogramm gegenüber, zu denen Brüssel gerade einmal 1,5 Millionen Euro beiträgt. Den Löwenanteil der Kosten schultert die Stadt selbst. Zum Vergleich: Allein die zehntägige Berlinale kostet mit 20 Millionen Euro so viel wie Pilsen für ein ganzes Jahr veranschlagt. Kann man ernsthaft noch von permanenter Verschwendung reden, wenn auch Maribor (2012), Sibiu (2007) und andere unter der 100-Millionen-Euro-Schwelle blieben? Das bulgarische Plowdiw bekam den Zuschlag für 2019 mit einem Haushaltsplan, der 22,3 Millionen Euro vorsieht.

Bis heute spürbar aufgewertet

Die als wenig nachhaltig gescholtenen Straßenfestivals wird es auch in Mons und in Pilsen geben, doch daraus zu schließen, dass vom Jahr als Kulturhauptstadt gar nichts bleiben werde, wäre voreilig.

Frühere Kulturhauptstädte wie Pécs, Luxemburg oder Košice haben alle bleibend profitiert. Es entstanden dort Kulturmeilen, die diese Städte bis heute spürbar aufwerten. In Lille, Kulturhauptstadt 2004, floss jeder investierte Euro achtfach zurück - in Form von Touristen und neuen Investitionen. Die Stadt hat ihr Image seither deutlich verbessert.

Es bestehen also Chancen, und wer heute schon genau weiß, dass Mons und Pilsen sie nicht nutzen werden, lässt vor allem eins vermissen: bessere Vorschläge für eine sinnvolle Kulturförderung in Europa.

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: