Krieg in der Ukraine:Kampf um den Beutel von Debalzewe

Ukrainian servicemen keep watch at no-man's land outside Debaltseve, Donetsk region

Ukrainische Soldaten an einem Wachposten außerhalb von Debalzewe.

(Foto: REUTERS)
  • In und um die nahezu eingekesselte Stadt Debalzewe feuern prorussische Separatisten und ukrainische Soldaten ohne Rücksicht auf Zivilisten.
  • Eine wichtige Versorgungsstraße und ein Eisenbahnknotenpunkt machen Debalzewe interessant.
  • Die prorussischen Separatisten spielen gnadenlos ihre Überlegenheit aus, und die ukrainische Armee will nicht noch mehr Schwäche zeigen. Die Furcht vor einem neuen Menetekel wächst.

Von Cathrin Kahlweit, Kiew

Die alte Frau hatte eben noch neben ihrem Sohn gestanden, drei, vier Meter entfernt. Sie waren auf die Straße gegangen, kurz nur, um ein paar Lebensmittel zu besorgen. Niemand hält sich in Debalzewe freiwillig länger als ein paar Minuten im Freien auf, das ist lebensgefährlich. Die gesamte Stadt, die auf drei Seiten von prorussischen Milizen eingekesselt ist, liegt unter permanentem Raketenbeschuss. Jeder Schritt ist lebensgefährlich. Nun ist der Sohn tot. Liegt unter einer weißen Plane, die Stiefel schauen heraus. Die alte Frau in ihrem weißen Fellmantel sinkt zu Boden, einer Ohnmacht nahe. "Das war mein Sohn, das war mein Sohn", ruft sie. Irgendjemand führt sie weg.

25 000 Einwohner hatte Debalzewe. Die Industriestadt befindet sich in direkter Luftlinie zwischen den Hauptstädten der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Eine wichtige Versorgungsstraße und ein Eisenbahnknotenpunkt machen Debalzewe strategisch interessant.

20 Busse für Tausende Zivilisten

Nun liegt alles in Trümmern. Die ukrainische Armee hat Tausende Soldaten hier konzentriert, Gräben ausgehoben und Wälle aufgeworfen. Das benachbarte Dorf Wulehirsk ist schon verloren, von dort beschießen die Separatisten über zehn Kilometer hinweg alles, was sich bewegt. An diesem Freitag haben sich beide Seiten auf einen "humanitären Korridor" geeinigt. Wieder einmal. Bis zum Nachmittag sollten in 20 Bussen Zivilisten hinausgefahren werden. 20 Busse für Tausende Zivilisten.

Kiew will die Stadt und das umliegende Terrain halten, unbedingt, schon wegen der aktuellen Verhandlungen mit Moskau und womöglich drohender Forderungen, umkämpfte Gebiete zu räumen. Der Landstrich um Debalzewe ragt geografisch wie ein Beutel nach Süden in Separatistengebiet hinein. Heraus - Richtung Artemisk - kommt man über eine Brücke. "Links stehen Separatisten, rechts stehen Separatisten. Immer, wenn das Feuer abnimmt, rasen Autos und Zivilfahrzeuge über den schmalen Zubringer in die Stadt", berichtet der Jurist Valentyn Onyschtschenko am Telefon. Es gab bereits zuvor Abmachungen zwischen den Konfliktparteien, den Korridor nach Norden hin offen zu lassen, aber nicht immer haben sich die beiden Seiten daran gehalten. Der junge Mann bestätigt durch puren Augenschein, was die Strategen in Kiew wissen: Wenn es den übermächtigen prorussischen Milizen gelänge, diesen Beutel im Norden zu schließen, wären etwa 8000 Soldaten und unzählige Zivilisten eingekesselt. Wahnsinn?

"Karman" (Tasche) nennt General Leonid Golopatjuk das, was es da zu verteidigen gilt. Er ist im Kiewer Verteidigungsministerium für Internationales zuständig, hat in Moskau studiert, in den USA gearbeitet. Debalzewe, sagt er, sei mittlerweile so sehr zum Symbol geworden wie der Flughafen von Donezk. Der Flughafen war monatelang umkämpft gewesen. Vor wenigen Wochen, als die Separatisten nach der Weihnachtspause wieder in die Offensive gingen, mussten ukrainische Truppen ihn aufgeben. Heute ist er eine Ruine, ein zertrümmertes Wahrzeichen des Krieges, der mittlerweile mehr als 5000 Tote gefordert hat - die russischen Opfer, die es offiziell nicht gibt, nicht eingerechnet.

Der Kessel von Ilowaisk ist ein anderes Beispiel für eine blutige Niederlage der ukrainischen Truppen vor einigen Monaten. Taktische Fehler und mangelnde Ausrüstung, heißt es, seien die Gründe gewesen, dass Hunderte in Gefangenschaft gerieten, Hunderte starben. Ein Menetekel.

Nun will die Generalität in Debalzewe zeigen, dass es auch anders geht. Und die Opfer in der Zivilbevölkerung? Krieg sei Krieg, sagt ein Armeesprecher. Die Sicherheit der Soldaten sei gegenwärtig wichtiger als die Evakuierung der Region. Wenn Debalzewe aufgegeben werde, dann sei das ein Signal für die Unfähigkeit, für die Schwäche der ukrainischen Armee, argumentiert General Golopatjuk. Außerdem füge man auch den prorussischen Milizen gewaltige Verluste zu, die Sache sei also "nicht aussichtslos". Viele erfahrene Kräfte seien hier stationiert, sagt er und bemüht sich, siegessicher zu klingen: Man setze die Separatisten im Westen, im Süden und im Osten massiv unter Druck. Die Ukrainer dürften das Gebiet nicht aufgeben, aus strategischen und aus moralischen Gründen.

Auch die ukrainische Seite beschießt Wohngebiete

Allerdings ist die Lage in und um Debalzewe katastrophal. 2000 Menschen konnten in den wenigen kurzen Feuerpausen bisher hinausgefahren werden, aber Busse und Lastwagen werden beschossen, immer wieder gibt es während der Evakuierungen Tote und Verwundete. Tausende sitzen in Kellern fest, ganze Familien, ohne Strom und Heizung. Sie tauen Schnee auf, um Trinkwasser zu haben. Auch die ukrainische Seite beschießt Wohngebiete, ohne Zweifel. Kaum noch jemand gibt sich die Mühe, das zu leugnen. Die offizielle Erklärung: Separatisten hätten ihre Raketenstellungen in Kommunen rundum platziert. Doch wer zurückschießt, gefährdet damit auch Zivilisten.

Valentyn Onyschtschenko berichtet von Leichen auf den Straßen. Anfangs, als der massive Beschuss vor mehr als einer Woche begonnen habe, hätten Bewohner die Toten noch zum Friedhof gebracht. Aber seitdem es heißt, dass dieser vermint sei, und seitdem Raketen "wie bei einem Pingpong-Spiel" im Minutentakt von beiden Seiten einschlügen, würden die Leichen bloß noch in Hauseingänge gezerrt - damit sie nicht beim nächsten Einschlag weiter zerfetzt oder von Hunden zerfleischt werden. Die Menschen seien völlig traumatisiert, sagt Jurist Onyschtschenko, der eigentlich nach wie vor im friedlichen Kiew lebt. Derzeit ist er als Übersetzer im Osten des Landes unterwegs: "Keiner traut sich aus den Kellern. Alle weinen." Und der Hass auf beide Seiten wachse: "Es gibt hier in den Augen der Bewohner keine Guten mehr, sondern nur noch Verbrecher. Auf beiden Seiten."

Leuchtend blaue Straßenschilder

Wer derzeit in Kiew die Ausfallstraße nach Osten nimmt, sieht leuchtend blaue Straßenschilder: Donezk 670 Kilometer, Luhansk 760 Kilometer, ist darauf zu lesen. Es lässt sich gut erkennen, dass Zahlen und Ortsnamen frisch aufgetragen wurden. Ein Symbol dafür, dass die zwei Großstädte im besetzten Gebiet in den Augen Kiews nach wie vor zur Ukraine zählen?

Präsident Petro Poroschenko, berichtet einer, der über gute Kontakte in die Präsidialkanzlei verfügt, hatte in der Nacht zum Freitag ziemlich heftig mit der Kanzlerin und dem französischen Präsidenten darum gerungen, was genau zu jenem Gebiet zu rechnen sei, über das in den kommenden Gesprächen mit Wladimir Putin verhandelt werden soll. Poroschenko sei "hart" geblieben, weil er keinen Meter Territorium mehr aufgeben wolle als nötig. Was nötig ist, das ist offenbar nicht nur Verhandlungs-, sondern Definitionssache. Ein Mitarbeiter des Außenministeriums merkt an: "Der Präsident sagt, was er sagen muss. Er darf jetzt keine Schwäche zeigen." Zu viel Terrain sei an die Separatisten im Osten verloren worden.

In den sozialen Netzwerken wird bereits für einen Maidan 3 getrommelt. Der Pravij Sektor, eine rechtsnationale Partei, die ein Freiwilligenbataillon an der Front stellt, spricht mittlerweile darüber, einen eigenen Generalstab einzurichten - einen, der es besser mache. Und der endlich Siege verbuchen soll.

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