Juden in Europa:Streiten für die Heimat

Public Invited to New Munich Synagogue

Die Synagoge in München: Niemand, dem eine Verbesserung der Zustände für die Juden in Europa am Herzen liegt, kann Netanjahu zustimmen .

(Foto: Getty Images)

Das Leben europäischer Juden ist nicht frei von Angst und Bedrohung. Doch dem Ruf des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu nach Auswanderung zu folgen, hieße: vor Terror zu kuschen.

Kommentar von Ronen Steinke

Jeden Samstag, wenn von den in Deutschland lebenden Juden ein paar zum Gottesdienst gehen, kommen sie an einem Polizeiwagen vorbei. Eine Synagoge, die keinen Polizeischutz braucht, gibt es in der Bundesrepublik heute nicht. Das Verhältnis ist einigermaßen entspannt, die Leute begrüßen die Polizisten meist nett, manchmal bringen sie ihnen Kaffee und Kuchen. Aber so bleibt schon Kindern nicht verborgen, dass ein Sabbat-Gottesdienst oder selbst etwas so Einfaches wie eine Purim-Feier - das jüdische Karnevalsfest mit Schminke, Rasseln und Süßigkeiten, das bald wieder bevorsteht - nicht ohne Angst geht.

Nach den Anschlägen von Paris wurden die Wachen kurz aufgestockt, Eltern mussten ihrem Nachwuchs erklären, warum die Beamten plötzlich Maschinenpistolen schulterten; nach den Schüssen vor einer Synagoge in Kopenhagen dürfte sich das jetzt vielerorts in Europa wiederholen.

Und wenn dann nicht nur Antisemiten von der einen Seite brüllen: "Geht doch nach Israel, wo ihr hingehört", sondern von der anderen Seite auch noch die israelische Regierung ruft: "Kommt hierhin, wo ihr hingehört, wo eure wahre Heimat ist", dann macht dies das Leben für deutsche, französische oder dänische Juden nicht leichter. Sondern es untergräbt ihr Bemühen, ihrem Umfeld in Europa zu verstehen zu geben: Wir gehören hierhin, wir leben hier seit Menschengedenken, wir sind keine Fremden.

Viele Israelis sehen Glaubensbrüder in Europa als Nutznießer

Die Zahl der europäischen Juden, die nach Israel auswandern, steigt besorgniserregend. Aber die große Mehrheit will in ihrer europäischen Heimat bleiben, und es ist interessant, dass ausgerechnet ein politischer Hardliner wie Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu seinen Glaubensbrüdern in Europa etwas nahelegt, was er im eigenen Land niemals empfehlen würde: vor dem Terror zu kuschen, das Zuhause zu verlassen. Und natürlich kann niemand, dem eine Verbesserung der Zustände in Europa am Herzen liegt, Netanjahu zustimmen, schon gar nicht ein jüdischer Gemeindevertreter oder Rabbiner.

Wenn Netanjahu Europas Juden auffordert, nach Israel zu kommen, dann will er sie damit durchaus auch ein wenig ärgern. Viele Israelis sehen ihre Glaubensbrüder in Europa als Nutznießer, die sich zwar gern darauf verlassen, dass der Staat Israel sie im Zweifel beschützen würde, die aber zu wenig bereit sind, zum teuren Erhalt dieses Rettungsbootes einen Beitrag zu leisten. Lieber zahlen sie ihre Steuern in Frankreich, lassen ihre Kinder ein freiwilliges ökologisches Jahr auf der Insel Rügen machen - so denken auch liberal gesinnte Israelis manchmal, bloß dass sie nicht so laut rufen wie ein wahlkämpfender Netanjahu.

Aus israelischer Sicht geht es darum, Solidarität von den europäischen Juden einzufordern; darin steckt ein impliziter Vorwurf des unfeinen Egoismus, der das Verhältnis zwischen Israel und den Juden im Rest der Welt seit jeher ein wenig gereizt sein lässt. Was dagegen fehlt, ist das Anerkenntnis, dass auch das Leben in Europa etwas ist, für das es sich zu streiten lohnt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: