Studie zur deutschen Einheit:Vereint, aber nicht eins

LICHTGRENZE Brandenburger Tor

Zum 25. Jubiläum des Mauerfalls zieht sich eine 15 Kilometer lange Lichtinstallation entlang des ehemaligen Mauerverlaufs durch die Innenstadt Berlins

(Foto: obs/Daniel Bueche)

Auch nach 25 Jahren wirft die deutsche Einheit noch eine Menge Fragen auf. Die neue Studie zum Stand der Wiedervereinigung liefert eine Menge Antworten. Die wichtigsten:

  • Ausländerfeindlichkeit ist kein reines Ost-Problem. Und auch antisemitische Ansichten sind im Westen nicht seltener.
  • Demokratie ist für alle Deutschen die beste Staatsform. Eine sehr große Mehrheit beteiligt sich an der Meinungsbildung.
  • Im Osten wollen die Menschen eher mehr Staat. Im Westen allerdings auch - nur weniger dringend.
  • Die Einheit finden die Menschen im Westen gut. Die im Osten finden sie aber noch besser.

Von Thomas Block (Grafik) und Thorsten Denkler, Berlin

Klischees über den Osten und den Westen Deutschlands gibt es reichlich: Hier die muffeligen Ossis, da die überheblichen Wessis. Ausländerfeindlichkeit und Demokratiemüdigkeit - ganz sicher eher im Osten. Wohlstandsmief und Besitzstandswahrer - alles im Westen.

Wissenschaftler am Zentrum für Sozialforschung der Universität Halle-Wittenberg haben das jetzt einmal im Auftrag der Ostbeauftragten der Bundesregierung, Iris Gleicke, untersucht. In einer groß angelegten Studie gehen sie der Frage nach: "Sind wir ein Volk? - 25 Jahre friedliche Revolution und Deutsche Einheit". Herausgekommen ist ein umfassender, 391 Seiten starker Befindlichkeitsatlas der Deutschen in Ost und West. Er zeigt, wie sich alte Unterschiede aufgelöst oder bestätigt haben. Wo Deutschland Ost und West auseinanderdriften, wo sie zusammenfinden. Mit zum Teil überraschenden Ergebnissen. Gleicke fasste es während der Präsentation der Studie in Berlin so zusammen: "Sind wir ein Volk?, wird gefragt. Nun, das waren wir auch in den 40 Jahren der Trennung." Dennoch gelte: "Wir sind vereint. Aber noch nicht eins."

Erkenntnis I: Ausländerfeindlichkeit ist kein Ost-Problem

Wer hätte etwa gedacht, dass die Westdeutschen neuerdings dieser Aussage deutlich häufiger zustimmen als die Ostdeutschen: Ausländer sollten das Land besser verlassen, wenn Arbeitsplätze knapp werden. Nach Pegida und Legida überrascht der Befund, auch wenn die Daten der Studie aktueller sein könnten. Die jüngsten sind von 2012.

Der Trend ist jedoch ein anderer. Im Osten wird dieser Aussage seit Jahren eher zugestimmt als im Westen. Wobei die Ostdeutschen, wie die Autoren der Studie schreiben, "in ihrem Antwortverhalten weder eine deutliche Missbilligung noch klare Akzeptanz zu erkennen" gäben. Die plötzlich hohen Zustimmungswerte im Westen für die Aussage, Ausländer sollten gehen, wenn es keine Jobs mehr gibt, ist für die Forscher jedenfalls noch "nicht als ein Trend zu bewerten". Auch antisemitische Ansichten kommen der Studie zufolge in Ost wie West in den vergangenen Jahren wieder häufiger vor.

Erkenntnis II: Demokratie ist für alle Deutschen die beste Staatsform

Das ist doch mal eine beruhigende Erkenntnis. Die Allermeisten in Ost und West fühlen sich wohl in ihrer Demokratie. Unterschiede sind dennoch erkennbar. Im Osten gilt die Demokratie etwas weniger als "beste Staatsform". Welche, ist nicht ermittelt worden, aber dass es eine bessere Staatsform gäbe als die Demokratie, finden mehr Menschen im Osten als im Westen. Wenn auch auf niedrigem Niveau. Unter zehn Prozent der Ostdeutschen sehen das so.

Aber wenn schon Demokratie, dann bitte mit mehr direkter Beteiligung. Darin sind sich Ost und West im Grundsatz einig. 60 Prozent der Westdeutschen sehen das so und 66 Prozent der Ostdeutschen, zeigen Zahlen aus dem Jahr 2014. Nur 29 Prozent im Westen und 33 Prozent im Osten sind mit der repräsentativen Demokratie einverstanden, in der Volksvertreter für die Bürger die wichtigen Entscheidungen fällen. Überraschend ist allerdings, dass zwar die Werte im Westen seit 1991 recht konstant sind. Im Osten aber die Fangemeinde der repräsentativen Demokratien von 18 Prozent auf heute 33 Prozent gewachsen ist.

Erkenntnis III: Wählen gehen ist Volkssport

Geht es um die Unterschiede der Beteiligung an den demokratischen Prozessen fällt auf, dass Wählen gehen nach wie vor hoch im Kurs steht. In Ost wie in West. Zwischen 76 und 88 Prozent gaben jeweils an, an Europa-, Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen teilgenommen zu haben. Der Blick auf die tatsächliche Wahlbeteiligung verrät zwar etwas anderes. Aber immerhin: Der Wille ist erkennbar.Die Bereitschaft, Wählen zu gehen, ist im Osten leicht geringer als im Westen.

Andere Formen der Beteiligung sind nachrangig. Den höchsten Wert erzielen noch Unterschriftensammlungen, an denen sich 49 Prozent der Befragten im Westen und 43 Prozent im Osten beteiligt haben.

Den Westdeutschen knapp voraus sind die Ostbürger in Sachen Bürgerdialog. 21 Prozent der Befragten gaben an, in den vergangenen zwölf Monaten an so etwas teilgenommen zu haben, 20 Prozent im Westen. Produktboykott und soziale Netzwerke scheinen dagegen Domänen der Westdeutschen zu sein. Der Abstand ist hier besonders hoch. 14:8 Prozentpunkte führen die Westdeutschen in den sozialen Netzwerken. 45:31 wenn es um Produktboykott geht.

Auch wenn sich kaum jemand in politischen Parteien engagiert (acht Prozent der Befragten im Westen, fünf im Osten) finden die Forscher lobende Worte für die politische Beteiligung der Deutschen: Selbst wenn die Teilnahme an Wahlen unberücksichtigt bliebe, ergebe sich insgesamt "ein starkes politisches Engagement": Nahezu 80 Prozent der Westdeutschen und fast 70 Prozent der Ostdeutschen beteiligten sich "in irgendeiner Form aktiv am politischen Geschehen".

Erkenntnis IV: Im Osten mehr Staat gewünscht, im Westen auch

Unterschiede gibt es auch in der Frage, was der Staat alles leisten soll. Preiswerter Wohnraum, Einkommensunterschiede abbauen, Preise und Löhne kontrollieren, das industrielle Wachstum sichern, Arbeitsplätze bereitstellen - überall wollen die Menschen in Ost und West, dass der Staat das Seine dazu beiträgt. Zwischen und 40 und 80 Prozent der Befragten sehen das so. Im Osten immer etwas mehr als im Westen.

Staatsgläubigkeit ist also ein gesamtdeutsches Phänomen. Die Unterschiede lassen sich vor allem auf die unterschiedlichen Lebensbedingungen in Ost und West zurückführen, schreiben die Forscher. Wer ressourcenschwach sei, der fordere einen starken Staat ein, "während ressourcenstarke Bürger mehr auf private Initiative setzen".

Erkenntnis V: Die Einheit finden Wessis gut und Ossis besser

An der deutschen Einheit scheiden sich die Geister. Überwiegend wird sie heute positiv gesehen. Aber vor allem im Westen scheint es eine gewisse Frustration zu geben. Gerade mal 60 Prozent der befragten Westdeutschen finden, dass die Einheit mehr Vorteile als Nachteile für den Westen gebracht habe. 29 Prozent glauben, für den Westen habe die Einheit mehr Nachteile gebracht. Den Osten sehen die Westdeutschen dagegen als die Gewinnerin der Einheit. 79 Prozent meinen, im Osten hätte die Einheit mehr Segen als Fluch gebracht.

Die Ostdeutschen haben da eine etwas andere Wahrnehmung. Auch sie glauben zwar, der Osten habe mehr von der Einheit profitiert als der Westen. Aber immerhin 64 Prozent denken, der Westen habe auch etwas von der Vereinigung gehabt.

Ein ähnliches Bild zeichnet sich, wenn es um die persönlichen Vorteile geht. Im Osten finden 77 Prozent, die Einheit war gut für sie. Die Westdeutschen wollen das nur zu 62 Prozent von sich behaupten. Für die Forscher dennoch ein gutes Zeichen. Es sei nicht zu erwarten gewesen, dass die Westdeutschen persönliche Vorteile durch die Einheit erkennen würden. Aus ihrer Sicht deutet "die große Zahl" auf eine auch im Westen der Bundesrepublik breit verankerte "Identifikation mit der deutschen Einheit hin"

Die vollständige Studie kann hier abgerufen werden.

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