Putins neue Militärdoktrin:Gefahren lauern überall

Die mühsam erzielte Einigung von Minsk weist nicht auf einen prinzipiellen Sinneswandel in Moskau hin. Vielmehr zeigt die neue Militärdoktrin, dass Russland zunehmend abdriftet.

Drei Thesen lassen sich aus der neuen Militärdoktrin ablesen:

  • Militärische Gefahren im Inneren spielen eine wichtigere Rolle als zuvor.
  • Die Nato gilt jetzt als militärische Gefahrenquelle Nummer eins.
  • Russland will unter anderem die Zusammenarbeit mit den anderen Brics-Staaten (Brasilien, Indien, China, Südafrika) intensivieren.

Von Heidi Reisinger

Die Friedensdiplomatie von Bundeskanzlerin Angela Merkel ist ein wichtiger Versuch, die weitere blutige Eskalation des Konflikts in der Ostukraine zu verhindern. Die mühsam erzielte Einigung von Minsk weist aber nicht auf einen prinzipiellen Sinneswandel in Moskau hin. Russland driftet vielmehr immer weiter ab, wie ein Blick auf Russlands Militärdoktrin zeigt.

Zur Person

Heidi Reisinger, 45, ist Expertin für Sicherheitspolitik am Nato Defense College in Rom. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Russland, Zentralasien und die Politik der Nato. Sie studierte Slawistik und Politologie in Berlin und Moskau.

Still und leise erschien die Neuauflage der Militärdoktrin während der (westlichen) Weihnachtsfeiertage auf der Homepage des Kreml, nur im russischen Original, ohne Übersetzung und mit geringer Medienbegleitung. Die von manchen Beobachtern erwartete rhetorisch-mediale Machtdemonstration fiel aus. So viel Heimlichtuerei macht dieses an sich langweilige Dokument schon wieder interessant. Auf den ersten Blick unterscheidet es sich kaum von seinem Vorgänger aus dem Jahr 2010: Einer Art Präambel mit allerlei Gemeinplätzen und Definitionen folgen eine Aufzählung militärischer Gefahren und Bedrohungen sowie Kapitel mit möglichen Antworten darauf.

Im Tonfall zurückhaltend

Dokumente dieser Art sind für gewöhnlich ohnehin so überladen, dass man buchstäblich alles hinein- und herauslesen kann. Aber immerhin dienen sie nach außen als Legitimationsgrundlage und nach innen als Rechtfertigungsrahmen für militärisches Handeln. Dieser, im Ton durchaus zurückhaltenden Militärdoktrin nach haben sich die Bedrohungen auf der Welt verschärft; Gefahren lauern überall - einschließlich einer Militarisierung des Weltalls. Doch unter den vielen Plattitüden findet sich auch Substanz.

Welche Thesen sich ablesen lassen

Wenn man einmal davon absieht, dass aus der Sicht vieler Staaten Russland selbst inzwischen zu einer neuen Bedrohung der europäischen Sicherheit geworden ist, dann lassen sich aus dieser Militärdoktrin zumindest drei wichtige Trends herauslesen.

Erstens: Militärische Gefahren im Inneren spielen eine wichtigere Rolle als zuvor. Es geht hier nicht etwa nur um "Islamismus" oder "Terrorismus", sondern um vom Ausland beeinflusste Unruhestiftung und innere Zersetzung. So ist die Rede von "Beeinflussung der (russischen) Bevölkerung, vor allem Jugendlicher, mit dem Ziel, die historischen, spirituellen und patriotischen Traditionen der Verteidigung des Vaterlandes zu untergraben."

Hier sendet Putin ein Signal an die russische Bevölkerung selbst. Vor der Teilnahme an öffentlichem Protest wie noch 2011 und 2012 soll abgeschreckt werden. Auch Protestbewegungen in den Nachbarstaaten werden als Bedrohung eingestuft. Derartige Entwicklungen werden als vom Ausland inszenierte Unterwanderung gedeutet und sollen mit allen Mitteln - auch militärischen - im Keim erstickt werden.

Zweitens: Im Gegensatz zu früheren Versionen der Militärdoktrin fehlen nun Hinweise auf eine Zusammenarbeit mit der Nato. Jetzt ist nur noch die Rede von einem "Dialog auf gleicher Augenhöhe". Die Nato wurde (zusammen mit den USA) bereits früher als militärische Gefahrenquelle gesehen. Nun gilt sie als militärische Gefahrenquelle Nummer eins, wurde aber nicht wie von vielen erwartet eine Stufe höher, als militärische Bedrohung, eingestuft. Als solche gilt jedoch die "Demonstration militärischer Gewalt bei Militärmanövern in Russlands Nachbarstaaten und seinen Verbündeten". Bei dieser Formulierung denkt man zwar eher an die Drohkulisse der russischen Militärmanöver an der ukrainischen Grenze. Hier wird aber der Spieß umgedreht, und werden die Manöver im Nato-Rahmen unter Beteiligung vieler Staaten im Baltikum, Polen und im Westen der Ukraine angeprangert.

Vor dem Hintergrund der Krim-Annexion durch Russland - des größten Landraubes nach dem Zweiten Weltkrieg - grenzt es ans Absurde, ein angebliches Vorrücken der Nato mit der Bedrohung der territorialen Integrität Russlands in Verbindung zu bringen. Es unterstreicht zudem Russlands Bedürfnis nach Pufferstaaten um sich herum. Den Nachbarn wird damit eine souveräne Entscheidung abgesprochen.

Drittens: Die Militärdoktrin zeigt, wen Russland als Verbündete und bevorzugte Partner betrachtet. In Abgrenzung zum Dialog mit Nato und EU geht es um eine intensivierte Zusammenarbeit mit der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), dem von Russland dominierten kollektiven Verteidigungsbündnis (CSTO), der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) und den weiteren sogenannten Brics-Staaten (Brasilien, Indien, China, Südafrika).

Hier sind vermutlich auch die Verbündeten Russlands zu verorten, von denen ständig die Rede ist, obwohl unklar bleibt, wer das nun genau ist. Direkt genannt werden lediglich Weißrussland und die erfolgreich von Georgien abgespaltenen Gebiete Abchasien und Südossetien. Nicht erwähnt wird, dass die beiden Regionen bislang von nicht einem einzigen der zuvor genannten Partner anerkannt wurden.

Die russische Führung zeigt damit, dass sie sich von der Zusammenarbeit mit westlichen Partnern offiziell verabschiedet hat und mit Hochdruck an Alternativen arbeitet. Dabei wird weiterhin der Mythos verbreitet, Russland könne mit neuen Partnern in Asien die ruinierte Partnerschaft mit Europa und Amerika kompensieren. Daher will es sich einsetzen für eine "blockfreie Sicherheitsarchitektur im asiatisch-pazifischen Raum" und für die Wahrung seiner Interessen in der Arktis.

Das Fazit aus der russischen Militärdoktrin

Was ist das Fazit dieser russischen Militärdoktrin? Mit dem Westen nur noch reden, Schulterschluss mit nicht anerkannten post-sowjetischen Kriegstrophäen und auf imaginäre Partner wie die Brics- Staaten setzen? Quasi als Taube auf dem Dach, da diese wohl kaum auf das sich im wirtschaftlichen Absturz befindliche Russland warten und dessen militärisches Abenteurertum unterstützen werden.

Der Krieg in der Ukraine wird ebenso wie die Ukraine selbst in der Militärdoktrin gar nicht erwähnt. Das verhindert jedoch nicht, dass mit den Verweisen auf neuere Kriegsmethoden - einem Mix aus militärischen und nicht-militärischen Mitteln, traditioneller Kriegsführung und Guerilla-Methoden sowie (Des-) Informationskampagnen - das eigene Vorgehen in der Ukraine ziemlich korrekt beschrieben wird.

Warnung an Kritiker und Verbündete

Mit dieser Militärdoktrin sendet Russland eine Warnung an potenzielle Kritiker im Inneren und vor allem an seine direkten Nachbarn. Und indirekt auch an seine Verbündeten. Der Nato und dem Westen insgesamt empfiehlt sich das Land nicht mehr als eigenwilliger, gleichwohl an gemeinsamer Sicherheit interessierter Partner. Vielmehr präsentiert sich Russland als zunehmend isolierter, unberechenbarer Staat, dessen autoritäres Regime mit allen Mitteln - auch militärischen - um das eigene Überleben kämpft.

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