Armutsbericht:So zerrissen ist Deutschland

Armut in Hamburg bundesweit am meisten gestiegen

Ein Bettler am Hamburger Fischmarkt: Nirgendwo ist die Armutsrate so sehr gestiegen wie in der Hansestadt.

(Foto: Christian Charisius/dpa)
  • Die Schere geht auf statt zu: Immer mehr Menschen in Deutschland sind von Armut bedroht.
  • Laut Paritätischem Wohlfahrtsverband stieg die Armutsquote 2013 auf einen Höchststand von 15,5 Prozent.
  • Alleinerziehende, Rentner und junge Menschen haben ein besonders hohes Risiko, arm zu werden.

Von Kim Björn Becker, Berlin

Trotz des anhaltend hohen Wirtschaftswachstums sind immer mehr Menschen in Deutschland von Armut bedroht. Das geht aus einem Bericht hervor, den der Paritätische Wohlfahrtsverband am Donnerstag vorgestellt hat. Demnach stieg die Armutsquote im Jahr 2013 auf einen neuen Höchststand; sie beträgt 15,5 Prozent, das entspricht etwa 12,5 Millionen Menschen. Im Jahr zuvor lag der Wert noch bei exakt 15 Prozent, folglich wären in der Zwischenzeit weitere 400 000 Personen zusätzlich in die Armut abgerutscht - in etwa so viele, wie in einer Stadt von der Größe Bochums leben.

Seit 2006 ist die vom Sozialverband ermittelte Armutsquote in Deutschland fast kontinuierlich gestiegen, für 2014 liegen noch keine Berechnungen vor. Als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Netto-Einkommens zur Verfügung hat. Für einen Single-Haushalt liegt die Schwelle bei 892 Euro im Monat, eine Familie mit zwei Kindern wäre mit weniger als 1873 Euro armutsgefährdet. Die Kalkulation beruht allerdings ausschließlich auf dem Durchschnittseinkommen der Deutschen, regionale Lohnunterschiede und Lebenshaltungskosten werden nicht berücksichtigt.

Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Sozialverbands, kritisierte vor allem die gravierenden regionalen Unterschiede: "Noch nie war die regionale Zerrissenheit so tief wie heute", sagte er bei der Vorstellung des jährlich erscheinenden Berichts. "Deutschland ist armutspolitisch eine tief zerklüftete Republik." In lediglich fünf Bundesländern liegt die Armutsquote unter dem Bundesdurchschnitt, dazu gehören Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz (siehe Grafik).

Armutsbericht: SZ-Grafik; Quelle: Paritätischer Gesamtverband

SZ-Grafik; Quelle: Paritätischer Gesamtverband

Oft sind Alleinerziehende, Rentner und junge Menschen von Armut betroffen

In allen übrigen Ländern haben überdurchschnittlich viele Menschen ein geringes Einkommen, vor allem in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Bremen. In fast allen Ländern stieg die Armut zwischen 2012 und 2013 an, lediglich Brandenburg und Sachsen-Anhalt verzeichneten einen abnehmenden Trend, in Sachsen blieb der Wert unverändert.

Die Daten des Reports legen nicht nur auf Ebene der Länder teils deutliche Gefälle frei, auch zwischen den Regionen sind die Unterschiede bisweilen gravierend: In der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover ist die Armutsquote mit 20,8 Prozent so hoch wie nirgends sonst im Bundesland; im Umland Hannovers jedoch fällt sie auf den Tiefstwert von 12,3 Prozent. Auch im benachbarten Nordrhein-Westfalen wird die Spaltung zwischen der vergleichsweise wohlhabenden Region Arnsberg (12,8 Prozent) und dem tendenziell ärmeren Dortmund (21,4 Prozent) deutlich.

Ein Sonderfall ist der Stadtstaat Bremen: In der Hansestadt selbst ist die Armutsquote mit 23 Prozent schon weit über dem Durchschnitt, doch im Vergleich zur bremischen Exklave Bremerhaven ist das noch immer wenig - dort ist fast jeder dritte Einwohner (32,6 Prozent) von Armut bedroht, mehr als irgendwo sonst in Deutschland. Allerdings sind diese Quoten mit Vorsicht zu genießen, da sie stets im Vergleich zum mittleren Einkommen aller Deutschen ermittelt werden. Legt man hingegen die regionalen Lohnverhältnisse als Maßstab an, ergibt sich oft ein anderes Bild: In Dortmund sänke die Quote in dem Berechnungsmodell von 21 auf 14 Prozent, in München stiege sie wegen des hohen Lohnniveaus von neun auf 18 Prozent an.

Der Hartz-IV-Regelsatz müsse deutlich steigen, fordern die Experten

Zum ersten Mal hat der Paritätische Wohlfahrtsverband auch sogenannte Risikogruppen identifiziert: Vor allem Alleinerziehende, Rentner und junge Menschen seien überdurchschnittlich oft von Armut betroffen. Insbesondere bei den Rentnern diagnostiziert Schneider einen "armutspolitischen Erdrutsch": Seit 2006 habe sich die Zahl der Armen in der Gruppe der Über-65-Jährigen um fast die Hälfte erhöht. "Wir müssen davon ausgehen, dass womöglich schon 2014, mit einiger Sicherheit jedoch 2015, die Armut unter den Rentnern erstmalig über der gesamtdeutschen Armutsquote liegt."

Vor diesem Hintergrund forderte der Sozialverband ein Maßnahmenpaket mit einem Volumen von fast 15 Milliarden Euro: Der Hartz-IV-Regelsatz müsse von derzeit 399 auf 485 Euro im Monat angehoben werden, zugleich soll die Altersgrundsicherung von 399 auf 530 Euro steigen. Auch sei eine Reform des Länderfinanzausgleichs geboten.

Mit dem Armutsbericht widerspricht der Sozialverband den Berechnungen der Bundesregierung, wonach sich die Schere zwischen Arm und Reich langsam schließe. "Die Bundesregierung muss jetzt handeln, um die soziale Sicherung armutsfest zu machen", sagte Wolfgang Strengmann-Kuhn (Grüne). Die Sozialpolitikerin der Linken, Sabine Zimmermann, kritisierte, die Bundesregierung "überlässt Millionen Menschen ihrem Schicksal".

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände indes äußerte sich kritisch: Die oberen 25 Prozent der Steuerpflichtigen zahlten mehr als drei Viertel der Lohn- und Einkommensteuer, das komme bereits einer "Umverteilung zugunsten ärmerer Bevölkerungsgruppen" gleich, hieß es. Im Gegensatz zu anderen Ländern sei die Einkommensungleichheit in Deutschland sogar geringer als zur Mitte des vergangenen Jahrzehnts.

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