Ukraine-Konflikt:Berliner Antworten auf Moskauer Mythen

  • Der Ukraine-Konflikt ist auch eine Schlacht um Behauptungen und Propaganda.
  • Berlin rüstet sich im Kampf um die Deutungshoheit mit einem Papier des Auswärtigen Amts.
  • Das Papier gibt Mitarbeitern und Auslandsvertretungen Argumente gegen den russischen Blick die Lage in der Ukraine an die Hand gibt.
  • Die wichtigsten Punkte im Überblick.

Von Stefan Braun, Berlin

Putsch! Faschisten! Einkreisung! Russland kämpft mit harten Worten um die richtige Geschichtsschreibung in der Ukrainekrise. Der Konflikt um das geschundene Land ist längst auch eine Schlacht um Behauptungen und Propaganda. Dabei wirft Moskau dem Westen und der Regierung in Kiew einen Putsch gegen den früheren Präsidenten vor, beklagt eine Einkreisungspolitik der Nato und spricht von Faschisten, die in Kiew regieren würden.

Der Bundesregierung stößt der Kampf um Wahrheit und Propaganda immer stärker auf. Kanzlerin Angela Merkel beklagte zuletzt auf der Münchner Sicherheitskonferenz die "Verunsicherbarkeit" offener und demokratischer Gesellschaften. Nun hat das Auswärtige Amt (AA) ein Papier erstellt, mit dem es seinen Mitarbeitern und Auslandsvertretungen Argumente gegen den russischen Blick auf die Welt im Allgemeinen und die Lage in der Ukraine im Speziellen an die Hand gibt. Es stellt den wichtigsten Behauptungen Moskaus eine eigene Position entgegen. Die SZ, der das Papier vorliegt, stellt die relevantesten vor. Deutlich wird: Berlin rüstet sich im Kampf um die Deutungshoheit.

Positionen im Kampf um die richtige Geschichtsschreibung

Behauptung eins: Der Westen habe sich in die inneren Angelegenheiten der Ukraine eingemischt und zur Absetzung der legitimen Führung beigetragen. Das Außenamt hält dagegen, der Grund für die Proteste auf dem Maidan sei die überraschende Entscheidung der Regierung Janukowitsch gewesen, die langjährigen Verhandlungen über das Assoziierungsgesetz auszusetzen. "Viele Bürger der Ukraine fühlten sich durch dieses Vorgehen getäuscht und reagierten mit Protesten", heißt es in dem Papier. Diese friedlichen Demonstrationen hätten sich zu Massenprotesten ausgewachsen, "die auch Forderungen nach umfassender Achtung rechtsstaatlicher Prinzipien, Korruptionsbekämpfung und einem Ende des gewaltsamen Vorgehens der Sicherheitskräfte aufnahmen". Westliche Politiker hätten sich für eine friedliche Lösung ausgesprochen und die Kiewer Regierung zur Wahrung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit aufgerufen.

Behauptung zwei: In Kiew seien Faschisten an der Macht. Dazu heißt es in dem Papier, dass sich an den Maidan-Protesten auch radikale Gruppen beteiligt hätten, "einige davon mit rechtsextremer Gesinnung". Diese jedoch machten laut Außenministerium nur einen "kleinen Anteil an den Protestierenden aus", landesweit bis zu zwei von gut 45 Millionen Einwohnern. An der nach dem Machtwechsel am 27. Februar 2014 gebildeten Übergangsregierung seien diese Gruppen nicht beteiligt gewesen. Und die Partei Swoboda, die damals in der Regierung saß und als rechtsnationale Partei gewertet werde, sei im Oktober 2014 bei der Parlamentswahl ebenso an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert wie der "Rechte Sektor". An der im November 2014 bestätigten neuen ukrainischen Regierung seien beide nicht beteiligt. Bei den Präsidentenwahlen im Mai zuvor hätten die Kandidaten gar nur 1,16 beziehungsweise 0,7 Prozent der Stimmen erhalten.

Behauptung drei: Die Absetzung des Präsidenten Janukowitsch und die Einsetzung der Übergangsregierung sei ein Staatsstreich gewesen. Richtig sei, so das Ministerium, dass Janukowitsch nach der Gewalteskalation am 21. Februar auf dem Maidan unter Vermittlung Frankreichs, Polens, Deutschlands und Russlands ein Memorandum zur friedlichen Beilegung des Konflikts unterzeichnet habe, aber noch in der gleichen Nacht nebst der Mehrzahl seiner Minister geflohen sei. Aus diesem Grund habe es keine handlungsfähige Regierung und kein Staatsoberhaupt mehr gegeben, nur noch ein handlungsfähiges Parlament. Dieses habe dann mit breiter Mehrheit den Staatsnotstand festgestellt und in den Tagen danach Neuwahlen angesetzt und einen Übergangspräsidenten sowie einen neuen Ministerpräsidenten gewählt.

Diskriminierung von Russen nur in Einzelfällen

Behauptung vier: In der Ukraine würden ethnische Russen und Russischsprachige diskriminiert und unterdrückt. Hier verweist das Außenamt auf das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und die OSZE, die keine systematische Diskriminierung festgestellt hätten. Ja, es gebe in Einzelfällen Probleme, aber nichts mit System. Auch das umstrittene Sprachengesetz vom Februar 2014 habe daran nichts geändert - weil es nie in Kraft gesetzt und außerdem später zurückgenommen worden sei.

Behauptung fünf: Die Krim war immer russisch. Hierzu heißt es, die Krim habe "eine überaus wechselvolle Siedlungsgeschichte", im dritten Jahrhundert die Goten, im fünften die Hunnen, später viele Jahre das osmanische Reich, bis das Russische Reich die Krim 1783 annektiert habe. Nach 1917 gehörte sie erst zur russischen Sowjetrepublik und wurde 1954 an die ukrainische Sowjetrepublik übertragen. Am wichtigsten aber sei, was nach 1991 geschehen sei: Die Krim sei in der Ukraine verblieben, und das sei Kiew im Budapester Memorandum 1994 auch von Russland zugesichert worden.

Russische Intervention mache die Abspaltung der Krim völkerrechtswidrig

Behauptung sechs: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und das Referendum legitimierten die Abspaltung und Eingliederung der Krim. Hierzu heißt es in dem Papier, ob das Selbstbestimmungsrecht auch das Recht auf Sezession umfasse, sei ebenso strittig wie die Frage, was tatsächlich ein Volk sei. In Wahrheit aber seien beide Fragen nicht relevant; entscheidend sei, dass die russische Intervention die Abspaltung der Krim "in jedem Falle" völkerrechtswidrig gemacht habe. "Sie stellte einen Verstoß gegen das Verbot von Androhung oder Anwendung von Gewalt in den zwischenstaatlichen Beziehungen nach Artikel 2 der UN-Charta dar", schreiben die Autoren. Sie verletze die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine. Aus Sicht der Berliner Diplomaten ändert daran auch das aus ihrer Sicht verfassungswidrige Referendum nichts, zumal dieses erst durch die russische Intervention überhaupt möglich geworden sei.

Behauptung sieben: Der Westen messe im Fall der Unabhängigkeit des Kosovo und der Abspaltung der Krim mit zweierlei Maß. Hier fällt die Antwort besonders deutlich aus. Die Autoren des AA schreiben, die Lage im Kosovo 1999-2008 sei mit der Situation auf der Krim 2014 "weder rechtlich noch politisch vergleichbar": Im Kosovo habe es nach dem Nato-Einsatz zur Abwehr einer drohenden humanitären Katastrophe eine durch den UN-Sicherheitsrat eingesetzte UN-Verwaltung und anschließend fast ein Jahrzehnt dauernde Bemühungen um eine Lösung im Konsens. Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo zehn Jahre später sei nicht unter den Bedingungen einer Intervention von außen, sondern nach vieljährigen gescheiterten Bemühungen erfolgt. Ganz anders liege der Fall der Krim: Die Sezessionserklärung sei überhaupt nur durch die völkerrechtswidrige Intervention Russlands möglich. Dieser Verstoß gegen das Gewaltverbot mache auch ihre anschließende Aufnahme in den "russischen Staatenverband" rechtswidrig. Resumee des AA: "Da es sich beim Gewaltverbot um eine Norm zwingenden Völkerrechts handelt, darf kein anderer Staat das Ergebnis anerkennen."

Angebot der EU für eine Modernisierungspartnerschaft

Behauptung acht: Bei dem Konflikt handle es sich um einen zwischen Kiew und den Separatisten. Hierzu schreiben die Autoren, auch wenn große Teile der Bevölkerung im Donbass der Regierung in Kiew kritisch gegenüber stünden, so hätten die bewaffneten Separatisten doch nie die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich gehabt. Gegen Versuche Kiews, die öffentliche Ordnung wieder herzustellen, könnten sie sich bis heute "nur durch die massive Unterstützung aus Russland behaupten".

Behauptung neun: Der Westen habe seit dem Ende der Sowjetunion eine systematische Politik der Ausgrenzung und der Schwächung Russlands betrieben. Dem halten die Berliner Diplomaten entgegen, EU und Nato hätten ein "überragendes Interesse, dass Russland als starker Partner und auf Grundlage gemeinsamer Prinzipien zur Sicherung der europäischen Friedensordnung beiträgt." Beide hätten deshalb seit dem Ende der Sowjetunion das Ziel einer engen und partnerschaftlichen Zusammenarbeit verfolgt. So habe es 1997 das Partnerschaftsabkommen mit der EU gegeben, 2005 sei die Schaffung von vier "gemeinsamen Räumen" vereinbart worden. Hinzu kämen das Angebot der EU für eine Modernisierungspartnerschaft und die Schaffung des Nato-Russland-Rates 2002. Laut AA habe es also einen "partnerschaftlichen und kooperativen Ansatz" gegeben.

Nato-Beitrittsfrage stehe derzeit nicht auf der Tagesordnung

Behauptung zehn: Die Nato habe ihr Versprechen gebrochen, sich nicht nach Osten auszudehnen. Hier schreibt das Außenministerium, ein solches Versprechen habe es nie gegeben. Es sei nur die Frage einer Ausdehnung auf das Gebiet der ehemaligen DDR vertraglich geregelt worden. Allerdings hätten die UdSSR, die USA und viele europäische Staaten 1975 die Helsinki-Schlussakte unterschrieben, die "das Recht auf freie Bündniswahl garantiert". Außerdem sei mit dem Nato-Russland-Rat 2002 parallel zur Osterweiterung auch die Zusammenarbeit mit Moskau vertieft worden.

Behauptung elf: Die Nato strebe die Aufnahme der Ukraine an, was von Russland als Bedrohung der eigenen Interessensphäre wahrgenommen wird. Darauf antworten Berlins Diplomaten mit einem Verweis auf die Helsinki-Schlussakte 1975 und die Nato-Russland-Grundakte. Beide würden klarstellen, dass die Ukraine frei wählen könne, ob und zu welchem Bündnis sie gehören wolle. Auf Wunsch Kiews habe es 2008 eine "unspezifizierte Beitrittszusage" gegeben, zwei Jahre später habe Kiew sich einen blockfreien Status gegeben, zuletzt sei dieser Status von Kiew wieder aufgehoben worden. Im Übrigen lege Präsident Poroschenko seinen Fokus derzeit auf Reformen, auch im Sicherheitsbereich. Deshalb stehe eine Beitrittsfrage derzeit nicht auf der Tagesordnung.

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