Seelsorger für Arbeitslose:"Die Menschen sind so verdammt allein"

Arbeitslosigkeit

"Ihr habt Arbeit und wir nicht" - Graffiti an einer leerstehenden Fabrik in Sachsen

(Foto: Arno Burgi/dpa)

Mike Gallen ist Deutschlands einziger hauptberuflicher Arbeitslosenseelsorger. Ein Gespräch über die Nöte und Ängste von Erwerbslosen, über zu viel Druck und eine merkwürdige Personalisierung der Schuld.

Von Lars Langenau

Mike Gallen, 59, ist Deutschlands einziger hauptberuflicher Arbeitslosenseelsorger. Der gebürtige Neuseeländer ist im alten Münchner Arbeiterviertel Westend im Auftrag der Erzdiözese München und Freising tätig. Der Pastoralreferent ist dort Ansprechpartner für Erwerbslose.

"Zwischen Ausbeutung und Selbstverwirklichung: Wie arbeiten wir in Zukunft?" Diese Frage hat unsere Leser in der achten Runde des Projekts Die Recherche am meisten interessiert. Dieser Beitrag ist Teil eines Dossiers, das sie beantworten soll. Alles zur aktuellen Recherche finden Sie hier, alles zum Projekt hier.

Was ist für die Menschen, die Sie beraten, am schlimmsten?

Es geht bei den Menschen nicht nur ums Geld. Es geht um Scham und fehlendes Selbstwertgefühl. Manche spüren Altersdiskriminierung, alle leiden unter fehlender Anerkennung. Ich bekomme meine Identität vor allem über das, was ich mache. Wenn das fehlt, zieht es die Menschen runter. Und es geht darum, dass die Menschen so verdammt allein sind.

Warum?

Wenn man einen Partner hat, dann trifft der Verlust des Arbeitsplatzes diesen Menschen oft nicht so extrem, weil man immerhin jemanden hat, mit dem man reden kann. Aber viele haben den nicht, und dann wird es schwierig. Ich hatte kürzlich einen Anrufer, der sagte: Herr Gallen, ich will nur, dass ein Mensch in der Stadt weiß, dass es mich überhaupt gibt, deshalb telefoniere ich mit Ihnen.

Unfassbar traurig.

Ja. Aber es zeigt genau das Problem und wohin die Arbeitslosigkeit führt: in die Einsamkeit. Ich versuche in meinem Job, diesen Menschen wieder Lust auf das Leben zu machen. Damit sie die Chance haben, sich neu zu orientieren, wenn ihnen die Arbeit weggebrochen ist - aus welchen Gründen auch immer.

Was sagen Sie da beispielsweise?

Ich bin da für dich. Ich gebe eine Zusage, dass ich den Menschen ernst nehme und wirklich zuhöre. Ein Kollege sagte mal: Seelsorge ist der Luxus, Zeit für jemanden zu haben.

Info

Die Katholische Arbeitslosenseelsorge ist unter www.arbeitslosenseelsorge.de zu erreichen. Mike Gallen organisiert zudem den Erwerbslosentreff "KOMMunikation" - jeden zweiten Mittwoch von 10 bis 13 Uhr. Dazu Ausflüge, Bildungsveranstaltungen, Freizeit, Sprachunterricht und eine Theatergruppe. Kontakt: 089/510 99 373.

Mit oder ohne religiöse Botschaft?

Die Arbeit sieht sozialpädagogisch aus, aber ich verstehe mich als Seelsorger - ich habe eine andere Haltung. Ich will den Menschen am Rand der Gesellschaft die christliche Botschaft der Hoffnung nahebringen. Ich geniere mich nicht, auch von Gott zu reden. Aber es muss nicht unbedingt sein. Es kann auch um ganz praktische Sachen gehen. Und ich darf mir Zeit nehmen, um mich intensiv den Einzelnen zuzuwenden. Überall sind die Räume für menschliche Zuwendung knapp geworden. Pfleger in Krankenhäusern sagen beispielsweise, dass es dort Gott sei Dank noch Seelsorger gibt. Den Ärzten und Pflegern selbst bleibt viel zu wenig Zeit, um sich um die Psyche ihrer Patienten kümmern zu können.

Was ist der Unterschied zwischen einem Seelsorger und einem Psychologen?

Psychologen können Seelsorger sein und Seelsorger auch Psychologen. Aber vielleicht sind Auftrag und Erwartungshaltung andere: Die meisten Psychologen werden von staatlichen Trägern oder von den Krankenkassen bezahlt. Sie dienen dadurch einem gesellschaftlichen Auftrag. Sie sollen für Gesundheit und Arbeitsfähigkeit sorgen. Beim Psychologen wollen die Klienten ein bestimmtes Problem angehen und erhoffen sich einen Rat oder Hilfestellung. Letzteres erwarten die Leute oft auch von mir, aber es geschieht in einem offeneren Rahmen: Die Menschen wollen ernst- und wahrgenommen werden und sich einfach aussprechen. Bei mir geht es jedoch nicht nur um die Seele, viele kommen auch mit massiven Geldproblemen zu mir oder wenn sie Konflikte mit den Behörden haben.

Also bieten Sie auch praktische Hilfe?

Ja, viele brauchen etwa Begleitung zu den Ämtern. Ich sehe meine Aufgabe vor allem darin, dass ich Leute zusammenbringe - zum Beispiel begleiten dann Arbeitslose andere Arbeitslose zu Behörden wie dem Jobcenter. Und ich biete Räume, in denen Menschen zusammenfinden und sich aussprechen können. Räume, in denen Seelsorge stattfinden kann. Es geht darum, menschlicher zu werden - das bedeutet pastoral eigentlich. Deshalb gehe ich mit diesen Menschen auch auf die Straße, um gegen die Harz-IV-Gesetze zu protestieren und für ein menschlicheres Leben hier in dieser Stadt.

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"Wenn das System nur krank wäre"

Ist das System krank?

Wenn es nur krank wäre. Eine Stärke Deutschlands ist die Gründlichkeit, aber diese Gründlichkeit, mit der auch Gesetze umgesetzt werden, macht die Leute kaputt. Es ist nicht nur das wenige Geld. Es ist die Angst, die dieses System auslöst und die die Menschen krank macht. Es gibt viele Leute, die trauen sich nicht mal mehr, einen Brief vom Jobcenter aufzumachen. Sie lassen ihn liegen oder öffnen ihn nur in Begleitung. Sie haben Angst vor neuen Sanktionen oder vor noch einer Ladung.

Aber die Ämter sollen den Menschen doch helfen, wieder in Lohn und Brot zu kommen ...

Sie sollen fördern, aber sie sind auch zum Fordern da. Und leider hat das Fordern oft Übergewicht und kommt im Vergleich zum Fördern zu kurz. Diese Einladungen in die Jobcenter sind ja keine im Wortsinn, sondern Vorladungen.

Sie machen diese Arbeit seit 18 Jahren. Was hat sich verändert?

Das Thema Arbeitslosigkeit ist heute vielfach aus dem Bewusstsein der Menschen verdrängt. Auch die Medien berichten nicht mehr so stark darüber wie noch vor einem Jahrzehnt. Früher wurde Arbeitslosigkeit als Massenproblem wahrgenommen, heute ist jeder selbst verantwortlich für sein Glück - oder Pech. Der Verantwortliche ist nicht mehr die Organisation des Staates oder die Produktivität in der Wirtschaft, sondern der Einzelne. Das hat psychologisch verheerende Auswirkungen, denn der Arbeitslose gibt sich selbst die Schuld an seiner Situation. Da hat sich in den vergangen zwei Jahrzehnten etwas radikal verändert: Weg von der Systemkritik hin zur Personalisierung von Problemen. Der Skandal der Arbeitslosigkeit wird individualisiert. Die Solidarität fehlt. Die Haltung ist: Jemand der arbeitslos ist, soll etwas für den Staat tun. Das gab es früher in dieser Form nicht.

Sind Ein-Euro-Jobs eine gute Sache, weil sie immerhin Sinn stiften?

Das war zwar nicht der Grund ihrer Einführung, ist aber für die Leute oft das Wichtigste. Jetzt wurden, unter anderem um die Banken zu retten, die Ein-Euro-Jobs drastisch gekürzt. Doch die sozialen Einrichtungen erleben gerade, dass die Menschen trotzdem kommen und ganz unentgeltlich arbeiten. Weil sie Kontakt haben und etwas tun wollen. Es gibt nur wenige Räume für Arbeitslose. Unser Erwerbslosentreff ist nur ein Tröpfchen auf dem heißen Stein. Aber er ist oft ein erster Schritt auf dem langen Weg, die Isolation zu überwinden.

Wie laufen diese Treffen ab?

Eine Dreiviertelstunde frühstücken wir gemeinsam, dann gibt es eine Stunde Tipps und Tricks: praktische Hinweise auf Hilfseinrichtungen wie etwa den Münchner Gesundheitsladen, wo man erfährt, wie sich Zähne mit wenig oder ohne Zuzahlung richten lassen. Schließlich gibt es noch einen Themenschwerpunkt, einen moderierten Vortrag über aktuelle Entwicklungen und Probleme, wie etwa "Zehn Jahre Hartz IV".

Was kann ein Seelsorger ausrichten?

Die Ausweglosigkeit kommt immer wieder zur Sprache, gerade bei Leuten, die noch nicht so lange arbeitslos sind. Sie haben wahnsinnige Angst, dass sie Hartz IV erwischt. In meiner eigenen Hilfslosigkeit frage ich dann, ob es nicht irgendetwas gibt, was ihnen guttut. Ich bin oft ein hilfloser Helfer. Aber eigentlich geht es nur darum, da zu sein, die Hilflosigkeit und die Angst auszuhalten. Einfach ist das nicht. Die Menschen werden in den Ämtern oft stark unter Druck gesetzt. Deshalb ist die Begleitung dahin ganz wichtig.

Was berichten Ihre Klienten von Job-Centern und den Betreuern?

Meistens nichts Gutes. Schlechte Behandlung kann man nicht verallgemeinern, es gibt dort bestimmt Leute, die versuchen zu helfen. Es ist das System, das die Menschen kaputt macht. Auch die Berater stehen unter Druck. Es gibt zu wenig Personal, um die Betroffenen vernünftig zu begleiten. Und es gibt zu wenig Geld, um adäquate Fortbildungen anzubieten. Jede Veränderung hat zusätzliche Sanktionen mit sich gebracht. Das macht die Menschen kaputt. Theologisch gesehen, bezeichne ich das als sündige Strukturen.

Müssen Sie angesichts der Schicksale, die Ihnen begegnen, manchmal an Hiob denken?

Tatsächlich thematisierten wir diese Figur aus dem Alten Testament gerade in einem Theaterspiel. Wir nennen das Bibliodrama und hatten dazu einen Workshop über drei Tage. Es macht betroffen, wie viel da bei den Teilnehmern losgetreten wird, wie tief und bewegend das ist. Ich kann es kaum nachvollziehen, wie diese Menschen ihre Situation aushalten.

Die Recherche zur Zukunft der Arbeit

"Zwischen Ausbeutung und Selbstverwirklichung: Wie arbeiten wir in Zukunft?" Diese Frage hat unsere Leser in der achten Runde unseres Projekts Die Recherche am meisten interessiert. Das folgende Dossier soll sie beantworten.

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    Gerade jungen Menschen ist Freiheit und Spaß bei der Arbeit wichtiger als das Gehalt. Die Unternehmen reagieren - mit individueller Karriereplanung und "Feelgood-Managern".

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    "Arbeit ist scheiße": Mit diesem Slogan wollte Peter Seyferth politische Karriere machen. Heute ist er freiberuflicher Philosoph und verweigert noch immer die Arbeit. Zumindest im Kopf.

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    Schneller, flexibler, vernetzter: Die digitale Revolution wird unsere Arbeit komplett verändern. Zum Guten oder zum Schlechten? Fünf Zukunftsvisionen.

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    Leben bedeutet heute Berufsleben. Doch wer kümmert sich ums Baby, wer macht den Einkauf, wer schaut nach der dementen Tante, wenn alle so viel arbeiten? Der Care-Bereich blutet durch die Ökonomisierung der Gesellschaft aus.

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    Was passiert, wenn kluge Software und mit Sensoren ausgestattete Roboter plötzlich zur Konkurrenz für den Menschen werden? Nichts Gutes, sagt der IT-Experte Martin Ford. Ein Gespräch über eine Zukunft ohne Arbeit.

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    Tausende Flüchtlinge kommen derzeit jede Woche nach Deutschland. Viele von ihnen sind bestens ausgebildet. Doch Deutschland nutzt diese Chance nicht. Wir stellen sechs Menschen vor, die nichts lieber tun würden, als hier zu arbeiten.

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    Sie arbeiten bis tief in die Nacht, hangeln sich von einem befristeten Vertrag zum nächsten oder werden gekündigt, wenn sie krank sind: SZ-Leser berichten von Missständen in deutschen Callcentern, Krankenhäusern und Unternehmen.

  • Arbeitsagentur "Wir statten Arbeitgeber mit billigem Menschenmaterial aus"

    Ihm begegnen Alleinerziehende, die trotz eines Ingenieurdiploms keinen Job finden, oder Migranten, die die Verträge, die sie unterschreiben, nicht lesen können: Ein Arbeitsvermittler aus einem Berliner Jobcenter gewährt subjektive Einblicke in das System Hartz IV.

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