Jauch-Talk zum Mindestlohn:In der ideologischen Blase

Prof Dr Stefan Sell Professor für Volkswirtschaftslehre Sozialpolitik und Sozialwissenschaften

Thema bei Günther Jauch am Sonntagabend: "8 Euro 50 - Funktioniert der Mindestlohn?"

(Foto: imago/Müller-Stauffenberg)

Das Scheingefecht über den Mindestlohn hält nicht nur die Regierung auf Trab. Seine Fortsetzung findet es bei Günther Jauch. Glücklicherweise bleibt die aufgeheizte Debatte nicht nur Betroffenen oder Vertretern der Großen Koalition überlassen.

Von Paul Katzenberger

Sind 32 000 Gespräche der Beleg für eine großartige Beratungsleistung? Oder ist die Flut von Anrufen schon das Eingeständnis des Scheiterns, weil so viel Beratungsbedarf vor allem zeigt, dass zu viele Unklarheiten herrschen? Um diese zwei Fragen ging es im Kern bei der jüngsten Diskussionsrunde bei "Günther Jauch", die unter der Überschrift "8 Euro 50 - Funktioniert der Mindestlohn?" stand.

Seit zwei Monaten gilt in Deutschland der Mindestlohn, und in dieser Zeit meldeten sich die 32 000 Anrufer bei der eigens dafür eingerichteten Hotline, die sich Antworten auf ihre Fragen zur neuen Gesetzeslage erhofften. Das rechnete Arbeitsministerin Andrea Nahles bei "Jauch" gleich zu Beginn der Sendung vor und verbuchte die hohe Auslastung der Hotline ihres Ministeriums sogleich als Erfolg. Denn hier werde gewährleistet, dass "der Mindestlohn auch wirklich gilt."

Ganz anders bewertete Ilse Aigner die hohe Zahl der Anrufer. Sie belege die vielen Unsicherheiten, die vor allem bei den Arbeitgebern durch die Einführung des Mindestlohnes aufgekommen seien. Für die bayerische Wirtschaftsministerin war die Sache damit gleich in ihrem Eingangsstatement klar. "Keine gute Umsetzung" des Gesetzes beschied sie Nahles kurz und knapp.

Bitter enttäuscht nach acht Wochen Lohnuntergrenze

Aigners Urteil schien ganz gut zu den Erlebnissen von drei Beziehern des neuen Mindestlohnes zu passen, dem Zeitungsausträger Jürgen Schlüns aus Schleswig-Holstein, dem Taxifahrer Volker Gebert aus Berlin und der Service-Kraft Melanie Moos aus dem fränkischen Schwabach. Alle drei hatten sich den neuen Mindestlohn gewünscht, acht Wochen nach Einführung der neuen Lohnuntergrenze zeigten sie sich nun bei Jauch aber bitter enttäuscht.

Zeitungsausträger Schlüns, der für seine Route vorher 94 Minuten brauchte, wurden vom Arbeitgeber nur noch 52 Minuten bezahlt. Bei Taxifahrer Gebert verrechnete der Chef das bisherige Urlaubsgeld mit dem höheren Lohn und Service-Kraft Moos musste plötzlich für Getränke bezahlen, die bisher kostenfrei waren - wohlgemerkt zu einem Preis, zu dem die Fränkin die bereitgestellten Getränke wie ein Kamel hätte wegkippen müssen, um den neu vorgeschriebenen Lohn wenigstens in Form einer Sachleistung als Einnahme verbuchen zu können.

Absurder geht's kaum, und einen Augenblick schien Andrea Nahles bei Jauch wieder so da zu stehen, wie kürzlich im Bundeskabinett. Da war sie von der Kanzlerin mit ihren Vorschlägen zur Arbeitsstättenverordnung öffentlich zurückgepfiffen worden. Es ging um Pausenräume mit Tageslicht und um Kontrollen von Arbeitszimmern in Privatwohnungen. Die Ministerin sah aus wie eine naive Weltverbesserin, die sich mit ihren gutgemeinten Vorschlägen in eine praxisferne Regelungswut hineinsteigert.

"Hier geht es um Arbeitgeber, die sich nicht an das Gesetz halten"

Mag dieser Eindruck von Nahles möglicherweise ungerechtfertigt erweckt worden sein, bei Jauch räumte sie ihn höflichst wieder aus: "Mit Verlaub", sagte sie, "hier geht es um Arbeitgeber, die sich nicht an das Gesetz halten." Mit der Unwissenheit der Arbeitnehmer werde Schindluder getrieben. Besagte Hotline könne auch anonym genutzt werden, damit der Zoll bei trickreichen Arbeitgebern mal nachsehe.

Das war der Hinweis auf die Notwendigkeit von Kontrollen, und an ihm entspann sich bei Jauch ein Schlagabtausch, wie er zu erwarten war. Wieder einmal wurde deutlich, dass es bei der Diskussion über den Mindestlohn vor allem um eine emotional aufgeladene Symboldebatte geht und weniger um eine nüchterne Auseinandersetzung in einer Sachfrage.

Schon im Bundestagswahlkampf 2013 war das Thema einer der großen Streitpunkte: Während die SPD hoffte, mit dem Mindestlohn Terrain gutzumachen, das sie wegen der Einführung von Hartz IV bei den Gewerkschaften verloren hatte, war es für die Union staatsdirigistisches Teufelszeug in einem Bereich, der besser dem Markt und den Tarifparteien vorzubehalten sei.

Streitfrage in der Großen Koalition

Weil die Wähler aber eine Große Koalition wollten, musste man sich in dieser Streitfrage zusammenraufen. Jetzt brechen die Gegensätze aber wieder auf: Die Union trommelt schon seit Wochen für eine Überprüfung des Gesetzes, obwohl sie es selbst mitgetragen hat, und es erst acht Wochen in Kraft ist.

So lässt sich wohl erklären, dass Aigner bei Jauch nach Nahles' Hinweis auf den Zoll rot sah. "Man muss nicht gleich nach dem Zoll rufen", schimpfte Bayerns stellvertretende Ministerpräsidentin. Hier werde ein unzutreffendes Bild von Unternehmern gezeichnet, indem diese in Bausch und Bogen kriminalisiert würden.

Das sah auch der sächsische Bäckermeister Roland Ermer so, der in der Runde als betroffener Unternehmer saß: "Man ist selbständig, man beschäftigt Leute, und wir alle sind scheinbar schon deswegen Verbrecher", polterte er. Dabei sei sein Verhältnis zu den Angestellten doch stets harmonisch: "Wir wissen von jedem, wann er Geburtstag hat."

Feiertagszuschläge kürzen, Trinkgelder einbehalten

Das Problem an Aigners und Ermers Argument: Kein Mensch hatte an diesem Abend je behauptet, dass alle Arbeitgeber Kriminelle seien. Nahles ging es vielmehr ausschließlich um jene Unternehmer, die offensichtlich geltendes Recht durch Umgehungsstrategien aushebeln: Feiertagszuschläge kürzen, Trinkgelder einbehalten, Getränke als Sachbezug verrechnen, Weihnachtsgeld auf Stundenlohn umlegen, Vor- und Nacharbeiten nicht mehr bezahlen, und so weiter und so fort. Wie soll gegen diese Praktiken vorgegangen werden, wenn nicht durch Kontrollen und das Ausfüllen von Stundenzetteln?

Glücklicherweise trug der ebenfalls geladene Sozialwissenschaftler Stefan Sell an diesem Punkt der Debatte zu ihrer Versachlichung bei. Er sorgte mit seinem Hinweis, dass ein so großes Gesetz wie das zur Einführung des Mindestlohnes am Anfang immer für Reibereien sorge, für die richtige Einordnung: "Denn es müssen ganz unterschiedliche Lebensverhältnisse geregelt werden." Die Umgehungsstrategien der Arbeitgeber seien darüber hinaus lange bekannt: "Schließlich gibt es in etlichen Branchen schon seit Jahren Mindestlöhne." Kontrollen seien daher dringend notwendig.

In ostdeutschen Regionen müsse mit Arbeitsplatzverlusten gerechnet werden

Das waren Argumente, die Nahles den Rücken stärkten, doch Sell war auch der einzige Diskutant des Abends, der sachlich nachvollziehbare Kritikpunkte am jetzt geltenden Mindestlohn-Gesetz vorbrachte. Gesamtwirtschaftlich sei die neue Lohnuntergrenze zwar gut zu verkraften. "Doch es gibt Regionen in Ostdeutschland, in denen 30 Prozent der Beschäftigten bislang für fünf bis sechs Euro die Stunde gearbeitet haben." Dort müsse mit Arbeitsplatzverlusten gerechnet werden.

Derjenige in der Runde, der sich von dieser einzig echten schlechten Nachricht des Abends am ehesten angesprochen fühlen musste, blieb erstaunlich ruhig: Thüringens neuer Ministerpräsident Bodo Ramelow, in der Anmoderation in die Nähe griechischer "Halbstarker" gerückt, dem die 8,50 Euro als Mindestlohn längst nicht genug sind, vermied jede exorbitante Forderung.

Er beließ es dabei, an seine Zeit als Gewerkschaftssekretär zu erinnern und die Angst vor Arbeitsplatzverlusten als "heiße Luft" zu brandmarken. Durch die Einführung des Mindestlohns würden nun aber prüfbare Fakten geschaffen, die ideologische Blase sei dann irgendwann mal weg, "und dann reden wir über echte Probleme".

Gerade in dieser Frage wäre das tatsächlich ein Fortschritt.

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