Demografie:Vereinbarkeit von Beruf und Pflege scheitert an den Firmen

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70 Prozent der rund 2,6 Millionen pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden zu Hause betreut, sehr häufig von Familienangehörigen.

(Foto: Westend61/imago)
  • In den kommenden 15 Jahren wird die Zahl der Pflegebedürftigen um etwa 700 000 Menschen ansteigen.
  • Immer mehr Arbeitnehmer werden sich neben dem regulären Job auch um einen Pflegefall kümmern müssen.
  • Die Unternehmen sind auf diese Realität noch überhaupt nicht vorbereitet.

Von Guido Bohsem, Berlin

Für die Wirtschaft ist die digitale Revolution das Thema der Stunde. Das Thema ist allgegenwärtig. Kaum ein Kongress, der sich nicht mit den Schlagworten Digitalisierung und Wirtschaft 4.0 beschäftigt. Bei so viel Aufbruch gerät das andere "D", das die Gesellschaft und das Wirtschaftsleben auf Jahrzehnte prägen wird, schnell aus dem Blickfeld: die Demografie. Während die sozialen Sicherungssysteme schon seit Jahren mehr oder minder erfolgreich auf die alternde Gesellschaft vorbereitet werden, geschieht in den Unternehmen immer noch zu wenig.

Dafür gibt es zahlreiche Indizien. Noch immer werden beispielsweise ältere Arbeitnehmer als potenziell weniger leistungsfähig eingestuft als jüngere. Dabei könnten gezielte Fortbildungen oder das Schaffen von Teams aus jungen und alten Mitarbeitern die Erfahrung und das Wissen dieser Beschäftigten aktuell halten oder nutzen.

Doch auch für die jüngeren Mitarbeiter treffen die Unternehmen in punkto Demografie zu wenig Vorsorge. Denn diese werden in den nächsten Jahrzehnten häufiger als heute in die Situation kommen, ihrer Arbeit nachzugehen und gleichzeitig für ihre pflegebedürftigen Eltern sorgen zu müssen. Verdeutlicht wird dies durch eine Forsa-Umfrage im Auftrag des Zentrums für die Qualität in der Pflege (ZQP), die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Demnach halten zwar zwei Drittel der befragten Unternehmen die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege für wichtig (76 Prozent). Allerdings bietet der Großteil der Unternehmen (72 Prozent) keine Angebote an, um sie zu ermöglichen. Schlimmer noch: Sie wollen dies auch in Zukunft nicht tun.

70 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause betreut

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sind derzeit etwa 2,6 Millionen Menschen pflegebedürftig, 70 Prozent davon werden zu Hause betreut, sehr häufig von Familienangehörigen. Nach den Angaben des Ministeriums wird die Zahl der Pflegebedürftigen in den nächsten 15 Jahren um gut 700 000 steigen und 2040 bei 3,64 Millionen zu liegen.

Entsprechend werden sich auch deutlich mehr Arbeitnehmer um einen Pflegefall kümmern müssen - und das wiederum muss die Unternehmen kümmern. Nach einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung pflegen derzeit schon fünf bis sechs Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung einen Angehörigen. Zwei Drittel davon sind berufstätig, Tendenz steigend.

Laut Forsa-Umfrage (unter 200 Unternehmen) sind die größeren Firmen besser auf die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf eingestellt. 43 Prozent der Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern halten demnach betriebsinterne Angebote vor. Bei den Unternehmen zwischen 50 und 249 Mitarbeitern sind nur 13 Prozent für einen solchen Fall gerüstet. Unter den bestehenden Angeboten spielen die Nutzung von Arbeitszeitkonten, flexible Arbeitszeiten und individuelle Absprachen mit den Arbeitnehmern die größte Rolle. Die Möglichkeiten, von Zuhause zu arbeiten oder sich den Arbeitsplatz zu teilen, sind hingegen weitaus weniger ausgeprägt. Nur etwa ein Fünftel der Unternehmen schult seine Führungskräfte im Umgang mit dem Thema Pflege.

Für ZQP-Vorstandschef Ralf Suhr ergibt die Umfrage eine gemischte Bilanz. Zwar habe die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege an Bedeutung gewonnen. "Jedoch zeigt unsere Untersuchung, dass noch ein weiter Weg zu gehen ist." Insbesondere die Führungskräfte in den Unternehmen müssten für das Thema Pflege deutlich stärker sensibilisiert werden als bisher.

Kleinere Firmen tun sich schwer, den Ausfall eines Mitarbeiters zu kompensieren

Einig sind sich die Unternehmen in ihrer Ablehnung der seit Anfang des Jahres geltenden Gesetze zur Pflegezeit. So schätzen 63 Prozent der Befragten die nun mögliche Arbeitszeitreduzierung als schlecht umsetzbar ein. Skepsis herrscht auch, wenn es um die Frage geht, ob ein Arbeitnehmer zur Sterbebegleitung eine Auszeit nehmen kann. 53 Prozent halten diese Regelung für wenig praktikabel. Selbst die maximal zehn Tage, die Arbeitnehmer im akuten Pflegefall frei nehmen können, um die nötigsten Dinge für ihre Angehörigen zu erledigen, bewertet ein Drittel der Arbeitgeber als problematisch - obwohl ihren Mitarbeitern in dieser Zeit ein Unterstützungsgeld von der Pflegeversicherung gewährt wird. Besonders kleinere Unternehmen von 16 bis 49 Mitarbeitern sehen sich demnach außer Stande, den vorübergehenden Ausfall eines Mitarbeiters zu kompensieren. Hier seien zusätzliche Unterstützungen notwendig, wolle man Konflikte vermeiden, sagte Suhr.

Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann (CDU), glaubt hingegen, dass im Pflege-Notfall sehr häufig pragmatische Regelungen gefunden würden. "Ich bin überzeugt, dass die Menschen und damit auch Arbeitgeber und -nehmer in der Lebenswirklichkeit viel Rücksicht aufeinander nehmen", sagt Laumann. Jeder Arbeitgeber müsse wissen, dass ein Mitarbeiter häufig nicht die gewohnte Leistung bringen könne, wenn dieser einen Angehörigen pflege. "Darauf sollte und wird auch in der Regel geachtet - so ist meine Erfahrung. Der Gesetzgeber hat aber auch reagiert und die veränderte Lebenssituation der pflegenden Angehörigen gestärkt."

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