Prorussische Separatisten in Debalzewe:Herrscher über Trümmer

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In Debalzewe herrschen Kälte, Zerstörung und prorussische Separatisten. Sie müssen nun wieder aufbauen, was sie zerschossen haben. Doch es fehlen Geld, Experten und Sicherheit.

Von Florian Hassel, Debalzewe

Nikolaj Suchinin hat sich nicht viele Klassiker der russischen Literatur entgehen lassen. Die Dramen von Maxim Gorki, Gedichte von Michail Lermontow, die Romane Leo Tolstojs - Suchinin hat sie fast alle gelesen. "Nur eines bedauere ich", sagt Suchinin, 83 und pensionierter Eisenbahner: "Ich habe 'Krieg und Frieden' ausgelassen. Es wäre sicher eine aufschlussreiches Lektüre gewesen." Sie nachholen kann Suchinin nicht, nicht nur wegen seines schwindenden Augenlichts.

Seit Mitte Januar gibt es in seinem bescheidenen Drei-Zimmer-Haus in Debalzewe weder Wasser noch Strom. Auch am Tag bleibt Suchinins Haus dunkel. Als vor einigen Wochen die Druckwelle eines Granateinschlages vor seinem Haus alle Fenster zersplittern ließ, ersetzte ein hilfsbereiter Nachbar das Küchenfenster durch Zellophan einer Möbelverpackung. Für andere Fenster war nur noch Pappe da. Die hält jetzt die Wärme drinnen, die aus dem Kohleofen in der kleinen Küche dringt, aber auch das Licht draußen.

Die Wirtschaft ist am Boden, die Separatisten knapp bei Kasse

Am Leben im Dunkeln hat sich nichts geändert, seit die ukrainische Armee am 18. Februar abzog vom wichtigsten Eisenbahnknoten der Ostukraine, und die Separatisten der "Volksrepublik Donezk" die Herrschaft übernahmen. Glasfabriken auf Rebellengebiet sind zerstört oder geschlossen, die Wirtschaft ist am Boden, die Separatisten sind knapp bei Kasse. Jetzt sollen sie die Stadt wieder aufbauen, die sie in Trümmer geschossen haben. Kaum eines der Häuser in Debalzewe, in dem nicht die Fenster kaputt sind. Dutzende, vielleicht Hunderte sind abrissreif, Schutt und Müll bedecken Straßen. Am "Platz des Sieges" bezeugen ausgebrannte Schützenpanzer und Lkw die Niederlage der geflohenen Ukrainer.

Auch die Stadtverwaltung ist schwer beschädigt, die neuen Herren empfangen die Einwohner im Standesamt. Das ist so wenig geheizt wie der Rest der Stadt, weshalb sich Natalja Mertschalowa mit einem dicken Pelzmantel schützt. Schon hat die Beamtin Tausende Meldungen beschädigter oder zerstörter Wohnungen und Häuser registriert - und kann nur antworten: "Eine Kommission wird die Schäden beurteilen." Gerade erst hat das Krankenhaus die Arbeit aufgenommen, mit zwei Ärzten. Schulen und Kindergärten, Fabriken und Geschäfte sind noch geschlossen.

Der Kindergarten Nr. 5 "Schmetterlinge", seit Juli 2014 geschlossen, überstand den Krieg fast unversehrt. Jetzt haben Spezialisten der Rebellen zerborstene Fenster ersetzt, die Heizung in Gang gebracht, einen riesigen blauen Container mit 1000 Liter Wasser in den ersten Stock gehievt und einen Dieselgenerator vor die Tür gestellt. Ist eingeheizt, will Direktorin Soja Owtscherenko den Kindergarten nächste Woche wieder öffnen - nicht nur für Kinder. "Wir nehmen auch Einwohner auf, deren Wohnungen zerstört sind", sagt Owtscherenko. In zwei Räumen stehen dicht an dicht Dutzende Betten.

"Sozialkarten" nur für Rentner, Kinder und andere Bedürftige

Weil Lebensmittelläden und die einzige Bäckerei geschlossen sind, verteilen die Separatisten Brot, Nudeln, Mehl und Zucker, Konserven, Seife und warme Decken. Von früher 27 000 Einwohnern Debalzewes seien 7000 wieder da, schätzt Natalja Mamajewa, Leiterin einer Ausgabestelle. "Es fehlt an allem. Ohne internationale Hilfe ginge es gar nicht." Die kommt aus Russland, vom UN-Flüchtlingswerk, dem Kinderhilfswerk Unicef und anderen westlichen Organisationen.

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Die Separatisten geben ihre neuen "Sozialkarten", ohne die es keine Lebensmittel gibt, nur an Rentner, Kinder und andere Bedürftige umstandslos aus. "Wer arbeitsfähig ist, bekommt die Karte nur, wenn er einen Vertrag über freiwilligen Arbeitsdienst unterschreibt und tatkräftig beim Aufräumen und Aufbauen mitmacht", sagt Pawel Sweloj. Er koordiniert die "Arbeit mit der Bevölkerung" und rekrutiert für die Rebellen neues Personal. "Mit den Karten machen wir Schluss mit Gammelei und Untätigkeit. Wir haben in Debalzewe die einmalige Chance zu zeigen, wie wir uns in der Volksrepublik Donezk den Aufbau des neuen Lebens vorstellen." Dazu passt eine Warnung an die Bewohner, nicht mehr angetrunken auf die Straße zu gehen: Wer es tut, wird festgenommen und zu 15 Tagen "gesellschaftlich nützlicher Arbeit" verdonnert.

Zentrale Probleme aber können nur Fachleute lösen, bisher im Dienst der ukrainischen Regierung. Wie die des Wasserwerks. Die fanden in einem kahlen Büro Unterschlupf. An der Wand hängt ein Foto des Eiffelturms, daneben ein blühender Kirschbaum - ein Bild aus einer anderen Welt. In Debalzewe dagegen, grau von Winter und Krieg, sind selbst Wasserleitungen und Abwasserkanäle, Pumpstationen und Filter von Hunderten Granaten zerstört. "Eigentlich müssten wir die Leitungen rausreißen und durch neue ersetzen. Aber dafür ist kein Geld da", sagt Chefingenieurin Swetlana Djemjanjenko. "Wir brauchen Jahre, bis wir die Wasserversorgung wieder in Ordnung gebracht haben."

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Debalzewe lebte bisher von und mit der Eisenbahn. Die ist schwer beschäftigt, Wladimir Sasonow soll sie für die Rebellen wieder in Gang bringen. Viele Gleise und Brücken sind gesprengt, Lokomotiven und Waggons von Bomben getroffen, die Stromversorgung ist kollabiert, die 18 Reparaturbetriebe, Depots oder Stellwerke sind "schwer oder sehr schwer beschädigt". Der Auftrag des Eisenbahnschlossers: möglichst schnell die Verbindung ins 180 Kilometer entfernte Luhansk und weiter nach Russland wiederherstellen, damit "unsere Kohle- und Stahlfirmen wieder Zugang zum russischen Markt haben". Und auch, darf man annehmen, damit die Versorgung mit Waffen und Personal aus Russland einfacher wird.

Alles war längst in Moskau geplant

Sasonows Aufgabe ist nicht leicht: Von 12 000 Eisenbahnern in Debalzewe "sind bisher 500 zurück". Zudem wurden die Eisenbahner bisher von Kiew bezahlt - wie die Separatisten sie bezahlen wollen, weiß auch Sasonow nicht. "Der Aufbau wird nicht Jahrzehnte dauern, aber doch sehr lange", sagt er. "Und wir sind eine Frontstadt. Wenn der Krieg weitergeht, kann er alle Pläne über den Haufen werfen." Debalzewe erlebt Krieg und Zerstörung nicht zum ersten Mal. Im Zweiten Weltkrieg besetze die Wehrmacht Debalzewe, Anfang September 1943 eroberte die Rote Armee den Eisenbahnknoten zurück. Dabei starben 2850 sowjetische Soldaten, Offiziere und Zivilisten, erinnert ein Denkmal auf dem "Platz des Sieges" im Stadtzentrum.

Auch im heutigen Krieg sind in Debalzewe neben Hunderten Soldaten beider Seiten "Hunderte Zivilisten gestorben", sagt Rebellenvertreter Pawel Sweloj. Die Propaganda des Kreml und der Separatisten nutzt die Erinnerung an den Kampf gegen Hitler-Deutschland zur Rechtfertigung des Kriegs jetzt: "Wer hätte gedacht, dass wir es heute wieder mit Faschisten zu tun bekommen - der Donbass wird sich nicht ergeben", ruft Wiktor Resnitschenko, aus dem russischen Krasnodar angereister Musiker und Afghanistan-Veteran, ehe er bei einem Platzkonzert im Zentrum Debalzewes Lieder über den Ruhm sowjetischer Fallschirmspringer oder russischer Granatwerfer und Panzer darbietet.

Tatsächlich, so legt ein von der Moskauer Nowaja Gaseta am 24. Februar veröffentlichter Aktionsplan nahe, plädierten kremlnahe Oligarchen schon Anfang Februar 2014 für Janukowitschs Sturz, die Annexion der Krim und den inszenierten Aufstand in der Ostukraine. Dort unterstützen einer Anhörung im US-Senat zufolge heute 14 400 russische Soldaten die knapp 30 000 bewaffneten Separatisten.

Russische Militärs spielten auch beim Kampf um Debalzewe eine entscheidende Rolle, wie ein Interview der Nowaja Gaseta mit dem russischen Panzersoldaten Dorschi Batomunkujew belegt. Danach werden russische Armeeeinheiten aus ganz Russland monatelang für den Einsatz in der Ostukraine trainiert. Batomunkujews Bataillon - 300 Soldaten mit 31 Panzern nebst Schützenpanzern und Munitionsfahrzeugen - wurde erst nach Donezk geschickt, von da aus zur Einkreisung und Bombardierung Debalzewes.

Dort ist es auch heute nicht schwierig, Russen zu treffen. Auf dem "Platz des Sieges" bitten die Separatisten zur Kartoffelsuppe ins Feldküchenzelt. Dort nimmt am Campingtisch auch Dennis Saizew Platz, Chef von zwei Dutzend Minenräumern. Neben Sprengstoff haben Saizews Männer an diesem Tag auch die Leichen von drei ukrainischen Soldaten gefunden. Saizew, Kampfname "Woran", kommt aus der russischen Kaukasusstadt Pjatigorsk und kämpft seit 2014 für die Rebellen.

"Es ist nicht mein erster Krieg", sagt er. "Ich bin auch Veteran der Kampagne in Südossetien" - des Kurzkrieges, bei dem sich Russland 2008 die Kontrolle über die zu Georgien gehörende Region Südossetien sicherte. Frau und Kinder ließ Saizew in Pjatigorsk, als er sich den Separatisten in Luhansk anschloss. "Seitdem habe ich Panzer gefahren, Lkws, jetzt räume ich Minen. Ich bin ein Universalsoldat", sagt er lachend. Wie andere Rebellen sieht er die wachsende militärische Macht optimistisch. "Hätte man uns nicht gestoppt, stünden wir heute schon in Lwiw" (Zentrum der Westukraine), brüstet sich Saizew.

"Hätte man uns nicht gestoppt, stünden wir heute schon in Lwiw"

Nach ihrem Rückzug aus Debalzewe steht die ukrainische Armee 13 Kilometer entfernt. Der Waffenstillstand ist brüchig. In Debalzewe wie in Donezk donnert täglich Artilleriefeuer. In Donezk berichten Rebellenkreise über angebliche Truppenverlegungen nach Norden. Meldungen über Verstärkung durch russische Truppen gibt es auch aus Nowoasowsk, auf dem Weg zur Hafenstadt Mariupol.

Rebellenchef Alexander Sachartschenko hat die Verdreifachung der Rebellenzahl auf 100 000 Mann befohlen, auch das ukrainische Parlament beschloss am Donnerstag eine Aufstockung der Armee. Der Krieg, so erscheint es, macht nur Pause. Beginnt er wieder, werden vor allem Menschen wie Nikolaj Suchinin leiden. Als der Krieg in Debalzewe im Herbst 2014 begann, lag seine Frau Galina krank im Bett.

"Ich habe sie zwei Jahre gepflegt und mit dem Löffel gefüttert", erzählt Suchinin, der seinen linken Unterarm bei einem Arbeitsunfall verlor. Anfang November starb seine Frau. "Das Schlimmste hat sie nicht mehr erlebt", sagt Suchinin. Das Schlimmste war das Dauerfeuer, mit dem Rebellen und russische Einheiten ab Ende Januar den Sturm auf Debalzewe vorbereiteten.

Kamen die Granateinschläge nahe, schleppte Nikolaj Suchinin seine Matratze mit dem rechten Arm in den Kartoffelkeller. Doch als eine Granate vor seinem Haus einschlug, war Suchinin im Inneren, die Druckwelle schleuderte ihn an die Wand. "Ich hatte noch Glück", sagt er. "Ich habe keinen Volltreffer abbekommen, wie manche Nachbarn. Den überlebt niemand." Vor drei Wochen hat Suchinin eine andere Familie bei sich aufgenommen. Tatjana Amelina, ihre Mutter Anna, 86, und den 17-jährigen Sohn Iwan. Die Wohnung der Amelinas ist nach Bombentreffern ohne Fenster und Heizung. Die Mutter ist bettlägerig, ihr Herz schwach. Iwan leidet am Asperger-Syndrom. "Ich habe gedacht, ich wäre eine starke Frau, aber ich bin am Ende meiner Kräfte", sagt Tatjana Amelina. Nikolaj Suchinin hilft sie beim Einkaufen oder beim Wasserschleppen. "Er ist ein guter Mann." Dann macht sie sich auf, bei den Separatisten Sozialkarten zu beantragen.

In Debalzewe treibt der kalte Märzwind schwere Schneeflocken über die Straße. Es wird früh dunkel, so hat Nikolaj Suchinin schon um vier Uhr nachmittags zu Abend gegessen. Nudeln, wie so oft zuletzt. Sein schwarzer Hund leistet ihm Gesellschaft. Die Rente von umgerechnet 66 Euro hat er zuletzt im Januar bekommen. "Wir werden sehen, was die neue Herrschaft bringt. Alle hier wollen nur eins: Arbeit und Frieden." Doch daran glaubt Suchinin noch nicht wirklich. "Ich fürchte, dieser Krieg ist noch längst nicht zu Ende."

© SZ vom 07.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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