Islamischer Staat:Zwietracht im "Kalifat"

Islamischer Staat: Kämpfer des "Islamischen Staates" im Norden Bagdads 2014. Immer wieder versuchen offenbar vor allem ausländische IS-Kämpfer zu desertieren.

Kämpfer des "Islamischen Staates" im Norden Bagdads 2014. Immer wieder versuchen offenbar vor allem ausländische IS-Kämpfer zu desertieren.

(Foto: AP)
  • Der "Islamische Staat" ist nicht nur militärisch von außen unter Druck. Auch innerhalb des "Kalifats" wachsen die Probleme.
  • Immer wieder versuchen IS-Kämpfer zu desertieren, oder kämpfen sogar gegeneinander.
  • Die Pläne des "Kalifen" Abu Bakr al-Bagdadi, mit seiner Ideologie die Muslime zu vereinen, scheitern bislang bereits im eigenen "Kalifat".

Von Markus C. Schulte von Drach

Der "Islamische Staat" gerät nicht nur durch die militärischen Aktionen der irakischen Regierung und ihrer Helfer immer stärker unter Druck. Das vom selbsternannten Kalifen Abu Bakr al-Bagdadi ausgerufene Kalifat scheint auch zunehmend mit Problemen innerhalb der eigenen Grenzen zu kämpfen.

Wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) in Coventry, Großbritannien, berichtet, ist es jüngst zu einem Gefecht zwischen zehn ausländischen IS-Kämpfern und anderen IS-Milizen bei der Stadt al-Bab im Norden Syriens gekommen. Die Ausländer hatten offenbar versucht zu desertieren. Bei der Schießerei starben fünf der Flüchtigen und vier loyale IS-Kämpfer. Die übrigen Deserteure wurden demnach wieder gefangengenommen.

Bereits im Dezember 2014 hatte SOHR von Informanten in Syrien erfahren, dass seit Oktober mindestens 120 Deserteure - vor allem Kämpfer aus dem Ausland, die in ihre Heimat zurückkehren wollten - hingerichtet worden seien. Auch die Financial Times hatte unter Berufung auf eine vertrauenswürdige Quelle berichtet, 100 ausländische IS-Kämpfer seien getötet worden, weil sie aus der Stadt Raqqa im Norden Syriens zu fliehen versucht hatten.

Ähnliches wusste jüngst das Wall Street Journal zu berichten: Demnach waren im Januar etwa 60 IS-Kämpfer von eigenen Kameraden getötet worden, weil sie sich vor den kurdischen Truppen bei Kobane zurückziehen wollten. Weitere 100 seien bereits im Dezember ermordet worden. Zuletzt waren im Februar in der syrischen Provinz Raqqa 30 bis 40 Leichen entdeckt worden, bei denen es sich vermutlich um ehemalige asiatische IS-Kämpfer handelte, die fliehen wollten.

Die jetzt gefangenen Deserteure dürfte wohl das gleiche Schicksal erwarten. Um Fluchtversuche zu erschweren, hat der IS angeblich verboten, dass Lastwagen ohne spezielle Erlaubnis Personen transportieren.

Unbekannte greifen IS-Kämpfer an

Doch der IS hat nicht nur ein Problem mit den eigenen Kämpfern. Wie die SOHR berichtet, hat in der Stadt al-Myadin in der syrischen Provinz Deir al-Zor eine unbekannte Gruppe von Bewaffneten eine IS-Patrouille angegriffen und zwölf islamistische Milizionäre getötet. Eine zweite Gruppe habe in der Stadt an einer Straßensperre Kalifat-Anhänger getötet; wie viele ist nicht bekannt.

Es ist nicht das erste Mal, dass Guerilla-Angriffe auf IS-Kämpfer stattfinden. Auch in der syrischen Stadt Raqqa wurden der Anti-IS-Gruppe "Raqqa Is Being Slaughtered Silently" zufolge kürzlich mehrere IS-Anhänger umgebracht. In Mosul existiert dem irakischen Vize-Präsidenten Usama al-Nujayfi zufolge eine Anti-IS-Guerilla, die den IS mit Anschlägen bekämpft. Und in Deir al-Zor kämpft offenbar eine Guerrilagruppe namens "White Shroud" (Weißes Leichentuch) gegen die Islamisten.

Selbst Gefängnisse hat der IS offenbar nicht mehr unter Kontrolle. Wie die SOHR berichtet, sollen in al-Bab etwa 95 Gefangene aus einem Gefängnis geflohen sein - darunter syrische Zivilisten, 30 kurdische Kämpfer, aber auch gemäßigtere islamistische Kämpfer. Viele von ihnen wurden der SOHR zufolge bereits wieder gefangengenommen. Milizen des "Islamischen Staates" hätten Straßensperren errichtet und über Lautsprecher die Bevölkerung aufgerufen, die "Abtrünnigen" festzuhalten oder zu verraten. Außerdem herrscht in al-Bab inzwischen eine nächtliche Ausgangssperre.

Wenn diese Berichte zutreffen, deuten sie darauf hin, dass es dem IS zunehmend schwerer fällt, die Bevölkerung, aber auch die eigenen - zum Teil offenbar desillusionierten - Kämpfer zu kontrollieren.

"Größte Herausforderung für Is kommt jetzt eher von innen"

Wie Lina Khatib vom Carnegie Middle East Center in Beirut der Washington Post sagte, sei der IS möglicherweise stärker von dieser Entwicklung bedroht als durch die Versuche der Regierungen im Irak und Syrien und ihrer Verbündeten, die Islamisten mit militärischen Mitteln zu verjagen.

"Die größte Herausforderung für Isis [eine andere Bezeichnung für den IS] kommt jetzt eher von innen als von außen", sagte Khatib. Dem "Kalifat" gelinge es nicht, zentrale Punkte seiner Ideologie zu realisieren: Menschen unterschiedlicher Herkunft zu vereinen.

Islamischer Staat: Trainingslager des "Islamischen Staates" für Kinder. Das Foto wurde veröffentlicht von den Aktivisten der Gruppe "Raqqa Is Being Slaughtered Silently". Es gilt als authentisch.

Trainingslager des "Islamischen Staates" für Kinder. Das Foto wurde veröffentlicht von den Aktivisten der Gruppe "Raqqa Is Being Slaughtered Silently". Es gilt als authentisch.

(Foto: AP)

Gerade die Ausländer, die IS-Chef al-Bagdadi herbeigerufen hat, stellen hier ein Problem dar. Tausende von ihnen sollen sich etwa in der Stadt Raqqa aufhalten. Doch viele von ihnen seien gar nicht zum Kämpfen gekommen, "sie wollen nur im Islamischen Staat leben", sagte einer der Gründer von "Raqqa Is Being Slaughtered Silently" der Washington Post.

Wie das Wall Street Journal berichtete, prüfen IS-Patrouillen in Raqqa inzwischen sogar, ob Ausländer die Erlaubnis ihrer Kommandeure haben, sich in der Stadt und nicht an der Front aufzuhalten. Der mangelnden Bereitschaft, an die Front zu gehen, begegnet der IS inzwischen mit einer besseren Bezahlung seiner Kämpfer - und durch die zunehmende Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen.

Schwierige Versorgung der Bevölkerung

Problematisch ist für das "Kalifat" auch, dass es immer schwieriger wird, die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Wie die Washington Post kürzlich berichtete, mangelt es in einigen Städten inzwischen an sauberem Trinkwasser, Nahrungsmitteln und Strom. Selbst in Teilen Syriens, die eigentlich vom IS kontrolliert werden, helfen demnach weiterhin "diskret" westliche Hilfsorganisationen den Menschen vor Ort. Fachleute, die versuchen, die Infrastruktur zu erhalten, werden zum Teil von der syrischen Regierung bezahlt.

Ahmed Mhidi, syrischer Aktivist und Flüchtling aus Deir al-Zour, sagte der Zeitung, der IS sei zwar nie beliebt gewesen, aber bisher von den Menschen unterstützt worden, weil diese Angst hatten oder Geld brauchten. "Jetzt wollen die Leute nichts mehr mit ihnen zu tun haben, und wenn der Islamische Staat Druck ausübt, fliehen sie."

Mit einem Aufstand der sunnitischen Bevölkerung im Irak und in Syrien gegen den IS ist derzeit zwar nicht zu rechnen. Zu groß ist wohl die Sorge, was passiert, wenn die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad und das Regime des Diktators in Damaskus die Kontrolle ihre Länder zurückgewinnen. Die Pläne des "Kalifen" al-Bagdadi, vom IS aus die Kontrolle über die gesamte muslimische Welt zu übernehmen, scheinen jedoch schon an den Problemen im eigenen "Kalifat" zu scheitern. Daran ändert auch nichts, dass in anderen Ländern extreme Islamisten wie Boko Haram oder libysche Terroristen dem "Kalifen" die Treue schwören.

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