Türkei:Süleyman und die Bürokraten

Türkei: Der Schreiber Süleyman Yiğit in seinem Straßenbüro

Der Schreiber Süleyman Yiğit in seinem Straßenbüro

(Foto: msz)

Hocker, Klapptisch, Schreibmaschine: Beim Behördengang helfen in Istanbul bezahlte Schreiber, die vor den Ämtern sitzen. Manchmal wissen sie besser Bescheid als die Beamten.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Süleyman hat Sprechstunde. Neben ihm brüllt ein Bulle von Mann in sein Handy und lässt sich Nummern durchgeben. Die wiederholt er jetzt so laut, dass Süleyman eine nach der anderen direkt in seine alte Schreibmaschine hämmert. Der Klang der Royal 200 geht im Lärm der Autos fast unter, die sich direkt hinter Süleymans Rücken im morgendlichen Berufsverkehr Stoßstange an Stoßstange den Atatürk-Boulevard hinaufquälen.

Schwer zu sagen, ob man Süleyman Yiğit, 42, ein Mann von sportlicher Statur und sonnigem Gemüt, einen Büromenschen nennen sollte. Die Türken haben jedenfalls einen Namen für Leute wie ihn: Istidacı, Anträgeschreiber. Sein Arbeitsplatz ist die Straße vor der türkischen Sozialversicherungsbehörde SGK. Ein Tischchen, notdürftig zusammengeflickt, ein roter Hocker, schwarze Aktentasche, Tacker, Papier, Stift, die Royal 200 natürlich. Mehr braucht er nicht.

Gemütlich sieht das alles nicht aus. Wer etwas von Süleyman will, muss sich weit zu ihm herabbeugen. Trotzdem stehen die Leute Schlange und wedeln ungeduldig mit Dokumenten. Süleyman schreibt ihnen die Anträge und tippt Briefe. Er beantragt Renten, beschafft Krankenversicherungen. Er macht das für all jene, die nicht wissen, wie das geht: Schreiben, einerseits. Verwaltung andererseits. "Der nächste, bitte!"

"Istidacı" wie Süleyman haben lange gut vom türkischen Staat gelebt, denn der liebt Bürokratie. Wer sich drinnen in den SGK-Büros umschaut, trifft auf Beamte, die sich dem Zusammenstecken von Papieren mittels Stecknadeln mit einer Leidenschaft widmen, wie man sie nur bei Künstlern vermuten würde. Sie lassen sich dabei auch nicht von einem wachsenden Pulk Wartender aus der Ruhe bringen.

Die Analphabetenrate war vor allem auf dem Land hoch

Ohne Antragsschreiber wie Süleyman waren früher viele Bürger aufgeschmissen. In den 70er-Jahren konnte etwa ein Drittel der Bevölkerung nicht lesen und schreiben. Die Analphabetenrate war vor allem auf dem Land hoch, und dort bei den Frauen. Zwar hat die Türkei stark bei der Bildung aufgeholt, ganz ausgeräumt ist das Problem aber nicht. Doch nicht nur als Analphabet hatte man es schwer in Amtsstuben. Ein Istidacı wusste immer ziemlich sicher, wie man ans Ziel kommt. Die Istidacı waren auch Straßenanwälte.

Yaşar Kemal, einer der wichtigsten Schriftsteller der Türkei, am Wochenende starb er, schlug sich in jungen Jahren auch als Istidacı durch. "Istidacı Kör Kemal", nannten sie ihn, blinder Briefeschreiber Kemal. Er verlor mit fünf Jahren durch einen Unfall ein Auge, daher der Spitzname.

Süleyman lebt seit 1991 in Istanbul. Er kommt aus Samsun an der Schwarzmeerküste. Dort besuchte er das Handelsgymnasium, schlug sich dann mit Jobs durch. Süleyman stand schon an der Tür von Edelrestaurants und empfing Gäste. Er hat Autos eingeparkt, was man in einer so zugebauten Stadt wie Istanbul tatsächlich lieber Profis überlässt. Aber darin, sich in der Behördenwelt zurechtzufinden, war er besonders gut. Süleyman studierte Vorschriften und Gesetzestexte. Mittlerweile, erzählt er, mache er den Job so lange, dass manchmal Beamte auf die Straße kämen und bei ihm Rat einholten. Frag Süleyman!

10 bis 20 Lira nimmt er für einen Antrag oder Brief. Er sagt, er komme aus mit dem Verdienst. Viel ist es nicht. Er kommt morgens mit den Beamten und geht nachmittags mit ihnen. Fünf Tage die Woche. Regnet es, sucht er Schutz unter einem Vordach. Sieben, acht Schreibmaschinen habe er schon verschlissen. Wenn wieder eine kaputtgeht, dauert es nicht lange, bis er von Beamten eine Gebrauchte geschenkt bekommt. Er weiß, das ist kein gutes Zeichen: Drinnen brauchen sie die nicht mehr, weil alle Computer haben. Und dann stellt sich natürlich die Frage, wie lange er, der Istidacı, draußen noch gebraucht wird.

Modernere, schnellere und bürgerfreundlichere Bürokratie

Vor allem die islamisch-konservative AKP-Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan hat sich seit 2002 drangemacht, die Verwaltung zu modernisieren, schneller, bürgerfreundlicher zu machen. Im Justizpalast ist das Ergebnis ganz gut zu bewundern. Dort hat sich die Bürokratie eine kleine, eigene Stadt geschaffen mit Friseur und Bankautomaten. Die Gänge sind breit wie auf einem Flughafen - und viel länger als beim Einchecken wartet man hier auch nicht unbedingt auf seine Dokumente.

Wer die Leute auf der Straße nach ihren Erfahrungen fragt, hört Lob. Von Veysel zum Beispiel, einem Kurden, das solle jetzt nicht heißen, dass die Beamten nicht noch besser werden könnten. Aber die Bürokratie habe ihren Schrecken von früher verloren. Vieles lässt sich schon per Internet erledigen oder man holt sich dort einen Termin. E-Rendezvous nennt sich das.

Schöne neue Zeit, Süleyman will sich nicht beschweren. Die Bürokratie habe gelernt. Er sieht es ja an seinen Kollegen, die aufgegeben haben. Er schätzt die Istidacı in Istanbul auf vielleicht noch 25, nicht mehr viele. Hat er Zukunftssorgen? Nein, sagt er: So gut seien die Beamten auch wieder nicht geworden.

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