Hilfe für Angehörige nach Germanwings-Unglück:"Nicht jeder will umarmt werden"

Hinterbliebene der verunglückten Germanwings-Passagiere und -Crewmitglieder haben einen traumatischen Verlust erlitten. Ein Notfallpsychologe erklärt, was die Angehörigen jetzt brauchen.

Von Violetta Simon

Gerd Reimann ist seit 20 Jahren als Notfallpsychologe im Einsatz und betreut Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben. Im Interview mit SZ.de erklärt der Potsdamer Wirtschaftspsychologe, was in den Angehörigen der Opfer des Germanwings-Fluges vorgeht und wie es gelingt, den Betroffenen die Kontrolle über ihr Leben zurückzugeben.

Einen geliebten Menschen zu verlieren, ohne sich verabschieden zu können - was geht in den Hinterbliebenen vor?

Zunächst befindet sich der Angehörige in einem Schockzustand. In dieser Phase leugnet er das Geschehene erst einmal, weil der Verlust so unvorstellbar und unerträglich ist. Er sagt sich: Das kann nicht sein. Und beginnt zu hoffen, zum Beispiel dass die Person aus irgendwelchen Gründen nicht in das Flugzeug eingestiegen ist. Erst allmählich wird die Katastrophe zur Gewissheit. Von da an ist nichts mehr wie es war, das gesamte Leben ist umgekrempelt.

Wie wichtig ist die Betreuung durch einen Psychologen in dem Moment, in dem Angehörige vom Absturz einer Maschine erfahren? Werden sie am Flughafen in Empfang genommen?

Falls die Angehörigen bereits am Flughafen sind, werden sie sofort abgeschirmt und betreut. Die Fluggesellschaften haben für solche Fälle spezielle Care-Teams, das sind nicht unbedingt ausgebildete Psychologen, sondern ehrenamtliche psychosoziale Notfallseelsorger. In den ersten 24 Stunden geht es ausschließlich um die Erfüllung von Primärbedürfnissen: Die Notfallhelfer hören zu oder halten einfach nur die Hand, stehen für Gespräche zu Verfügung, besorgen etwas zu trinken oder eine Decke.

Und nach den ersten 24 Stunden?

Wenn die Schockphase vorbei ist, geht man auf die Betroffenen zu und sagt: Ich gebe Ihnen hier einen Namen und eine Nummer, dort können Sie weiterbetreut werden. Das heißt: Wir drängen uns nicht auf. Deshalb ist es auch so wichtig, dass unser Angebot bekannt ist. Ich habe heute zum Beispiel Kontakt zum Katastrophenschutz aufgenommen und den Mitarbeitern Hilfe angeboten. Denn auch diese Menschen sind belastet.

Dann beginnt Ihre Arbeit ...

Wenn die Leugnungsphase vorbei ist, beginnt die sogenannte Einwirk- oder Stabilisierungsphase, sie dauert vier bis sechs Wochen. Die meisten sind dann noch belastet. Sie benötigen - soweit keine psychische Erkrankung vorliegt - die Unterstützung eines Notfallpsychologen. Ein Psychotherapeut wäre bei psychisch gesunden Menschen die falsche Wahl.

Warum können Betroffene nicht zum Therapeuten gehen?

Der Unterschied ist: Wir wenden keine therapeutischen Techniken an, sondern stabilisieren die Angehörigen erst einmal und fungieren als Gesprächspartner. Wir versuchen, das Ereignis in das Leben der Person zu integrieren, ihr die Kontrolle und die Orientierung zurückzugeben. Diese Menschen haben oft keinen Plan mehr.

Sie führen die Menschen also durch diese Zeit?

Ja, wir strukturieren, informieren, geben einfache Aufgaben, dazu braucht es bis zu sechs Sitzungen. Manche wissen nicht einmal, welcher Wochentag ist - wir klären dann, was sie in der folgenden Woche machen können, bringen Struktur in ihre Zeit und in ihr Leben. Wenn jemand ansprechbar ist, schlagen wir ihm auch vor, anderen Betroffenen mit einfachen Handreichungen zu helfen. So vermitteln wir das Gefühl: Ich werde gebraucht, ich kann was. Denn das wurde ihnen mit dem Unglück genommen. Außerdem prüfen wir, auf welche Ressourcen diese Menschen zugreifen können. Wir fragen, ob jemand zu Hause ist und sie jemanden zum Reden haben. Ist das nicht der Fall, stellen wir jemanden. Schließlich versuchen wir noch, die negative Bewertung der Katastrophe umzuinterpretieren.

Wie soll das denn funktionieren?

Ein Beispiel: Eine Mitarbeiterin musste mit ansehen, wie jemand aus dem 20. Stock sprang. In der ersten Sitzung wollte sie die Zeit noch zurückdrehen. Nach der dritten oder vierten Sitzung habe ich sie gefragt: Was, glauben Sie, war gut daran, dass Sie das mit ansehen mussten? Da hat sie nachgedacht und gesagt: "Wenn einem anderen Kollegen so etwas passiert, wüsste ich jetzt, wie ich auf ihn zugehen und helfen könnte." Das nennt man uminterpretieren.

Brauchen alle Betroffenen seelischen Beistand oder gibt es Menschen, die in der Lage sind, das mit sich selbst auszumachen?

Meine Empfehlung: Jeder sollte nach der Schockphase zumindest ein Gespräch führen. So können wir sehen, ob weiterer Bedarf besteht. Das erfolgt über sogenannte Screenings, mit denen wir Reaktionen abfragen. Treten etwa Herzrasen, Schwitzen, Erregbarkeit auf, weiß man: Hier ist noch etwas zu tun. Laut Statistik schaffen es etwa 30 Prozent ohne weitere Hilfe. Entweder weil sie auf etwas oder jemanden zurückgreifen können, der ihnen Halt gibt, oder weil sie bereits eine schlimme Erfahrung dieser Art gemacht haben und das anwenden können. 30 Prozent sind sogenannte Wechsler - sie sind also in der Lage zur Selbstheilung. Es darf nur nichts anderes Schlimmes mehr passieren. Beim letzten Drittel würde ohne Betreuung eine posttraumatische Störung eintreten. Diese Gruppe müssen wir erwischen.

Wie geht man als Laie auf Angehörige zu, die einen geliebten Menschen verloren haben?

Stellen Sie sich vor, Sie wären in so einer Situation: Was würden Sie sich wünschen? Seien Sie einfach nur da und schauen Sie, was der andere braucht. Gehen Sie hin, hören Sie zu. Machen Sie keinen Bogen um ihn, weil Sie nicht wissen, wie Sie damit umgehen sollen. Andererseits will auch nicht jeder umarmt werden. Ich habe einmal einen Jungen betreut, der seine Eltern verloren hatte. Der wurde von allen Erwachsenen gedrückt und geknuddelt, um ihn zu trösten - er fand das unerträglich. Ein schwerer Fehler ist es, den Schmerz kleinzureden und Dinge zu sagen wie: "Ist doch nicht so schlimm" oder "Schau mal, diese Mutter hat sogar drei Kinder verloren" oder "Du hast ja noch zwei Kinder".

An Bord des Germanwings-Flugs 4U9525 war auch eine Schülergruppe. Was geht in Mitschülern und Freunden dieser verunglückten Kinder und anderer Unfallopfer vor?

Da gibt es ein ganzes Bündel an Gefühlen. Womöglich haben sich manche zuvor noch gestritten, da spielen immer auch Aspekte wie Schuld, Scham und Vorwürfe eine Rolle. Auch ihnen müssen wir helfen und sie dazu bringen, ihre Gefühle anzunehmen und zuzulassen.

Wie verarbeiten Psychologen das Leid eines Menschen, das sie in dem Moment unmittelbar miterleben?

Eine schwierige Frage. Einerseits müssen wir in der Lage sein, das Leid des anderen nachzuempfinden, andererseits dürfen wir uns davon nicht runterziehen lassen. Hier ist es hilfreich, das Angebot der Supervision zu nutzen: Wenn ich etwas Belastendes erlebt habe, das ich nicht aus dem Kopf bekomme, kann ich das mit einem Kollegen besprechen.

Gibt es eine spezielle Ausbildung für Notfallpsychologen?

Ja, an der Deutschen Psychologenakademie (DPA), wo ich als Dozent lehre, können sich neben Notfall- auch Schul- und Polizeipsychologen ausbilden lassen. Die Bundeswehr hat das Ausbildungssystem mittlerweile für traumatisierte Soldaten übernommen.

Wie wird Betreuung in einer Stadt wie Haltern organisiert?

Die Ersten sind die Notfallseelsorger, sie schauen, wie es weitergeht. Manchmal sind Schulpsychologen vor Ort, auch der Bürgermeister kann sich einen Überblick verschaffen, ob genug Leute zur Verfügung stehen. Dann müssen die Verantwortlichen - oder die Betroffenen - auf uns zukommen. Auf der Internetseite der DPA kann man sich über ein Register informieren, wer wofür ausgebildet ist. Einfach ungefragt hingehen sollte man als Psychologe nicht. Das stört nur. Die Leute vor Ort müssen signalisieren, dass sie Unterstützung wollen.

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