Martelltal in Südtirol:Wilde Diva

Zufallhuette/Marteller Tal

Vor allem im Frühjahr sind die Dreitausender im Nationalpark Stilfser Joch ein beliebtes Ziel für Skitourengeher.

(Foto: Enno Kapitza)

Das Martelltal ist eine der wenig besuchten Ecken Südtirols. Die Bewohner haben sich bewusst gegen den Skizirkus entschieden - dafür kommen manchmal Bären vorbei.

Von Titus Arnu

Bären sind dem Menschen sehr ähnlich. Sie können aufrecht gehen, sie sind Allesfresser, passen sich den Verhältnissen der Natur an, neigen zu Übergewicht, haben Karies und schnarchen im Schlaf. Auf einer Hütte möchte man einen Bären deshalb lieber nicht als Zimmergenossen haben.

Die Zufallhütte im hinteren Martelltal bekommt allerdings öfter mal Besuch von solchen Pelzträgern. Problembär Bruno machte auf seiner Wanderung von Italien nach Bayern im Jahr 2006 im hinteren Martelltal Station, riss ein paar Schafe und lief wenig später zufällig einem Hüttengast vor die Linse. Vor zwei Jahren entdeckte der einheimische Bergführer Josef Plangger die Abdrücke von tellergroßen Pratzen im Schnee, in 3000 Metern Höhe auf einem Gletscher in der Nähe der Zufallspitze. Ein andermal streiften gleich zwei Bären in Hüttennähe durch die Gegend.

Reiner Zufall sind die Bärenbesuche nicht. Bären sind menschenscheue Tiere, und im hinteren Martelltal sind relativ wenige Leuten unterwegs. Die Gegend ist Teil des 1346 Quadratkilometer großen Nationalparks Stilfser Joch. Er grenzt an den Nationalpark Engadin und den Naturpark Adamello-Brenta an, weshalb man von einem der größten Schutzgebiete Europas sprechen kann. 73 Prozent der Nationalparkfläche befinden sich oberhalb von 2000 Metern. Eigentlich eine lebensfeindliche Umgebung, besonders im Winter. Unter der meterdicken Schneedecke rauscht Schmelzwasser. In den Wäldern verstecken sich Gämsen, Rotwild, Steinböcke. Manchmal sieht man einen Adler kreisen.

Der Name der Zufallhütte ist kein Zufall. In Sichtweite der Hütte donnert im Sommer ein gewaltiger Wasserfall über eine Felswand, "er fällt sozusagen auf das Tal zu", erklärt Uli Müller, der Hüttenwirt. Im Winter ist der Wasserfall komplett gefroren, eine Kathedrale aus Eis. Normalerweise sind die Wasserfälle ein Spielplatz für Eiskletterer - doch in diesem Winter bleiben sie gesperrt. Ein Bartgeierpaar brütet in der Nähe. Die Gegend wird von Mitarbeitern des Nationalparks bewacht, um den Geiernachwuchs zu beschützen.

Die Zufallhütte ist ein idealer Ausgangspunkt für Ski- und Schneeschuhtouren, es gibt 13 Dreitausender, die Routen führen in fast alle Himmelsrichtungen, darunter einfache Eingehtouren, etwa auf die Cima Marmotta (3227 m), lange Tagestouren wie auf den Cevedale (3769 m) und sehr anspruchsvolle Besteigungen wie auf die Königsspitze (3851m), die im Moment aber nicht infrage komme. "Zu gefährlich", sagt René Kuppelwieser, der Bergführer aus dem Ortsteil Vorhöfe im unteren Martelltal: "Sie ist wie eine Diva - von Weitem sieht sie super aus, aber wehe, du kommst ihr zu nahe!" Der Berg ist berüchtigt für Steinschlag, Blankeis und Lawinen.

Auf der Piste, in der Loipe

Die aktuellen Schneehöhen in den Alpen bei Schneehoehen.de.

Auf dem Weg zur Östlichen Veneziaspitze (3356 m) begegnet man keinem Menschen, nur ein paar Schneehühner huschen aufgeregt über den hart gefrorenen Schnee. Für sie ist die Wildnis ein ideales Refugium, wie auch für Bären und Bartgeier, für Enzian, Edelweiß und Alpenrosen. Die Menschen taten sich dagegen schon immer etwas schwer in der rauen Umgebung. Das Martelltal zählt in Südtirol zu den Gegenden mit dem geringsten Bruttosozialprodukt. Wenn es Zufall-, Marteller- und Casatihütte nicht als Stützpunkte in dieser Eis- und Felswüste gäbe, wären die Wege auf die meisten Gipfel zu weit. Das Tal ist eng und die meiste Zeit des Tages schattig; eine kleine Straße windet sich in abenteuerlichen Kehren bis zum Parkplatz am Talschluss hoch. Wellnesshotels, Schirmbars, Skilifte gibt es nicht. Eine Rodelbahn, ein Biathlonzentrum und eine Kletterhalle sind neben dem Skitourengebiet die wichtigsten Attraktionen der Gegend.

Nur noch eine Ruine

"Die Bauern haben zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel", sagt René Kuppelwieser. Seine Großeltern haben noch einen Bauernhof mit Schafzucht betrieben und vor Kurzem mit der Landwirtschaft aufgehört. Viele junge Leute wandern ab, weil sie im Tal keine Arbeit mehr finden. Auf die 880 Einwohner der Gemeinde kommen 660 Gästebetten, jährlich werden etwa 60 000 Übernachtungen registriert, die meisten davon im Sommer. Allein der Ort Wolkenstein in Gröden hat bei 2600 Einwohnern beispielsweise 8000 Gästebetten und rund eine Million Nächtigungen.

Das Martelltal ist allerdings auch das einzige große Seitental im Vinschgau, in dem es kein Skigebiet gibt - und das soll nach dem Willen der Einwohner so bleiben. Die Pläne eines Liftunternehmers aus dem benachbarten Wintersportort Sulden, das Tal mit dem Skigebiet am Ortler zu verbinden und eine Bahn durch das bislang unberührte Madritschtal zu bauen, wurde abgelehnt. Erstaunlicherweise hatte sich Reinhold Messner vor ein paar Jahren für das Projekt ausgesprochen, obwohl es mitten durch ein Schutzgebiet geführt hätte. Almbauern, Naturschützer und Lokalpolitiker wehrten sich gemeinsam - und verhinderten den Bau.

"Ein Skilift im Martelltal wäre widersinnig", findet Bergführer René Kuppelwieser, "zumal die erforderliche Infrastruktur - große Hotels, breite Straßen - auch nicht vorhanden ist." Zwar steht ein stattliches Haus, das Hotel Paradiso, am Talschluss, aber es gleicht einer Ruine. Erbaut vom Mailänder Architekten Gio Ponti, war es vor dem Zweiten Weltkrieg eine Fünf-Sterne-Unterkunft für reiche italienische Sommerfrischler mit 250 Zimmern, Sauna, Lesesaal, Friseur, Taverne und Postamt. Kuppelwiesers Oma arbeitete im Service des Paradiso, und noch Jahrzehnte später erzählte sie oft vom Afrika-Zimmer, das mit Elfenbein ausgestattet war, und von den vornehmen Herrschaften, die dort residierten. 1943 wurde das Hotel von der deutschen Wehrmacht besetzt und als Kurhotel für deutsche Soldaten genutzt. Mittlerweile gehört es der Südtiroler Brauerei Forst, doch deren Besitzerin konnte sich bislang nicht zu einer Wiederbelebung des Hotels durchringen.

Das Martelltal braucht solche Investitionen in Luxus und Liftbetriebe vielleicht gar nicht, die Natur ist paradiesisch genug. Die Organisation Slow Food hat Martell als "Lebensmittelbündnis" anerkannt, im Tal werden Erdbeeren, Käse und Speck nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit erzeugt. "Bei uns finden die Leute genau das vor, was sie im Alltag nicht haben", sagt Hüttenwirt Uli Müller. "Es gibt kein Fernsehen, kein Internet und keine Disco, dafür Ruhe und Natur." Und sogar manch einen Bären.

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