Absturzort Seyne:Trost und ein wenig Freundschaft

FRANCE-SEYNE-AIRBUS A320 CRASH-RESCUE

Im Basislager: Französische Polizisten brechen im südfranzösischen Seyne in Richtung der Absturzstelle des Germanwings-Airbus auf.

(Foto: Xinhua/Sipa USA)

Die Einwohner von Seyne-les-Alpes helfen, wo sie können. Sie bieten den Familien der Absturzopfer ihre Häuser und ihre Hilfe an. Warum? "Das war für uns keine Frage, das gehört sich einfach", sagen sie.

Von Oliver Klasen und Christian Wernicke, Seyne-les-Alpes

Marc Vaisse ist kein Mann großer Worte. Er packt lieber an, so wie jetzt: Der Familienvater zieht den dröhnenden Staubsauger durchs Esszimmer hinter sich her, hinten an der Treppe stehen zwei volle Mülleimer. Vaisse schwitzt, der 39-jährige Familienvater zieht das türkisfarbene Sweatshirt aus und schaut verzweifelt drein: "Es ist noch so viel zu tun."

Unten im ersten Stock sind die Betten noch nicht bezogen, drüben in der Sofaecke sieht man Staub und Krümel. Er ist allein, seine Frau hilft unten im Tal bei der Verpflegung der Gendarmen - und nachher kommen Gäste: "Sogar acht vielleicht. Wir wissen nicht, ob jemand bleibt. Oder wer kommt." Helfen ist Stress.

Der 1400-Einwohner-Ort hat sich gerüstet

Aber Familie Vaisse wollte "irgendwie helfen, wir mussten irgendetwas tun nach dieser Katastrophe", erklärt Marc Vaisse und atmet durch. Der Tischler lebt in Seyne-les-Alpes, einem Bergdorf am Westrand der französischen Seealpen. Hinter dem alten Steinhaus am Dorfplatz, das er vor fünf Jahren gekauft hat, erhebt sich der graue, mächtige Fels der Montagne de la Blanche. Auf den Gipfeln leuchtet der Schnee in der Sonne, eine Idylle. Hinter dem Berg aber liegen die Trümmer eines Flugzeugs, in dem 150 Menschen starben.

Nun, da die Angehörigen am Donnerstagnachmittag in Bussen anreisen, hat sich der 1400-Einwohner-Ort gerüstet. Hunderte Bürger haben sich gemeldet, um den Trauernden beizustehen oder ihnen eine Bleibe anzubieten, Trost und ein wenig Freundschaft. Warum er das tut? Marc Vaisse hebt und senkt die Schultern: "Das war für uns keine Frage, das gehört sich einfach." Das Haus der Vaisse ist so groß wie ihr Herz. Seit drei Tagen leidet Frankreich mit den Opfern.

Ob in Paris, in Marseille oder eben in Seyne, überall sprechen die Franzosen ihr Beileid aus, wenn sie einem Passanten mit deutschem Akzent begegnen. "Mes sincères condoléances", so steht es wieder und wieder auf dem weißen Papier des Kondolenzbuches, das am Eingang von Notre-Dame de Nazareth, der romanischen Kirche von Seyne ausliegt.

Gerade kommt Nicole Savorine vorbei, eine kleine, 68 Jahre alte Dame. Auch sie ist Helferin. Madame Savorine eilt zum Nebenaltar beim Taufbecken, stellt Kerzen und Lichter bereit. Und legt ein Feuerzeug auf den kleinen Tisch: "Wer weiß, vielleicht will jemand der Angehörigen hier ein Licht anzünden?" Sie legt 15 Trauerlichter auf den Tisch. Aber bis nach Notre-Dame kommen die Trauernden gar nicht. Polizei und Gendarmerie wollen die Angehörigen vor den 200 Journalisten im Ort schützen, ins Dorf kommt niemand von ihnen.

Ein Ort ewiger Trauer

Die Familien und Freunde werden in sieben Bussen nach Le Vernet gefahren, in den kleinen Weiler südlich von Seyne. In einer zweiten Delegation sind die Angehörigen der Besatzungsmitglieder unterwegs. Das Fernsehen fängt aus der Ferne ein paar Bilder ein, mehr nicht. Hier ist man der Katastrophe noch etwas näher, und hier wollen die beiden Gemeinden demnächst eine Gedenkstätte errichten, als Ort ewiger Trauer. Am späten Nachmittag versammeln sich die Besucher am Dorfrand bei der Turnhalle, die jetzt Trauerhalle ist. Die Katastrophe vom Dienstag wird Seyne verändern. Das sagen alle im Ort. Wie, weiß niemand. Auch nicht Francis Hermitte, der Bürgermeister. Der Mann im dunklen Anorak streicht sich die Haare aus dem zerfurchten, sonnengegerbten Gesicht, da er über diese Frage grübelt.

Die Menschen halten Betten für unbekannte Gäste bereit

"Wir alle leben hier in den Bergen und mit den Bergen", sagt er, "und jetzt sind in diesen Bergen 150 Menschen gestorben, das ist schrecklich." Am Donnerstag ist er ein wenig stolz darauf, wie seine Mitbürger mit anpacken. Und, dass so viele Familien sich gemeldet haben, um Angehörige zu beherbergen: "Wir halten 350 bis 400 Betten bereit."

Es sind weniger Trauergäste gekommen, der Sprecher des Innenministeriums spricht am Abend von 250 bis 300 Angehörigen, von denen die meisten noch abends wieder zurückreisen wollten, einige Angehörige wollten aber noch in der Region bleiben. Sie wollten die Aufarbeitung des Unglücks in Frankreich verfolgen und bekämen alle Hilfe, die nötig sei, sagte der Sprecher des Innenministeriums, Paul-Henry Brandet. Ob auch die Eltern des Copiloten in Seyne seien, dazu wollte er nichts sagen.

Bürgermeister Hermitte, ein zäher Mittfünfziger, kennt sich aus mit dem Leben und mit dem Tod. Er ist von Beruf Arzt. "Bergdoktor", lacht er, "und leidenschaftlicher Wanderer." Hermitte kennt den Ort des Grauens genau, auf die Frage nach dem "Warum?" bleibt er nüchtern: "Wir haben hier nun mal das erste Bergmassiv, wenn man aus dem Süden kommt. Deshalb hat es uns getroffen."

Ja, es hat sie getroffen in Seyne. So erzählt Gérard Maroselli, der ältere Herr in der engen Grande Rue, dass "ich immer wieder weine, wenn ich die Luftbilder von dem Berghang mit den Trümmern im Fernsehen sehe". Oder Marie-France Manœuvre, die fröhliche Apothekenhelferin, die daheim unterm Dach drei Betten für fünf unbekannte Gäste hergerichtet hat.

"Wir fühlen mit ihnen"

Früher wohnten da ihre fünf Kinder. Die 53-Jährige hat sich gut vorbereitet. Sie hat eingekauft, schon fürs Frühstück am Donnerstag. "Aber da kam keiner." Und sie hat überlegt, wie sie den fremden Gästen mit Gesten Mitgefühl zeigen kann: "Spanisch oder Deutsch sprech' ich ja nicht."

Warum sie das tut: "Ich tue nur etwas, was ich erhoffen würde, wenn es mir so erginge wie diesen Menschen." Der Kühlschrank ist voll. Bis zum frühen Abend bleiben alle Betten im Haus Vaisse und bei Marie-France Manœuvre leer. Kein Anruf. Und wenn niemand kommt? Sie lacht: "Macht nix, wir haben ja Kinder. Und Enkel."

Die leben. Gendarmen stehen an der Zufahrtsstraße nach Seyne. Sie lassen nur Helfer und andere Befugte durch. Soldaten sichern die Wiese, hinter der das Jugendzentrum von Seyne-les-Alpes liegt. Jeden Journalisten, der näher kommt als 100 Meter, beordern die Soldaten zurück. Es ist der Ort, wo die Angehörigen der Opfer erwartet werden. Er wird von Sicherheitskräften abgeriegelt. Immer mehr Einsatzkräfte werden konzentriert. Feuerwehrleute, Psychologen, Seelsorger und Übersetzer, damit sich die Angehörigen mitteilen können.

Nur drei Mädchen und einen Jungen, die hier aus der Gegend stammen, lassen die Gendarmen ein paar Meter hinter die Absperrung. Die Jugendlichen haben einen Blumenstrauß mitgebracht, fünf weiße Rosen und einen Brief an die Familien der Absturzopfer, in dem steht: "Wir kennen Sie nicht, aber wir fühlen mit Ihnen."

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