Pierre Michon wird 70:Die Väter schlafen

Persönliches mixt er mit Kosmischem: Pierre Michon. "Körper des Königs" heißt sein neues Buch.

Von Joseph Hanimann

Die "faustdicke Abwesenheit" der Helden bestimmte das Erstlingsbuch von Pierre Michon, "Leben der kleinen Toten" aus dem Jahr 1984. Hinter den unscheinbaren verstorbenen, fast schon vergessenen Verwandten und Bekannten stand da vor allem der abwesende Vater, den der Schullehrersohn Michon, 1945 in einem abgelegenen Dorf des Massif Central geboren, nicht gekannt hat und der, wie die Großmutter dem Jungen berichtete, vor dem Foto seines Sohns auf der Kommode geweint habe - "ein Abwesender beweint einen anderen Abwesenden in diesem Abwesenheitshaus".

Nicht zuletzt wegen dieser frühen Erfahrung der Existenzlücken fand der Autor erst auf langen Umwegen zu seinen ersten Publikationen. Die prägende Figur war zunächst Rimbaud, dem sich Michon in seinem Buch "Rimbaud der Sohn" widmete. Seine schmalen Werke sprechen immer von diesem Ich, das durch Lektüren, Erinnerungen und manche Begegnungen seinen Weg sucht. Sie sind aber Lichtjahre entfernt von der anekdotischen Selbstspiegelung landläufiger Ich-Literatur. Statt narrativ ausholender Spannbreite bieten Michons Bücher eher eine Art essayistisch erzählender Selbstreflexion, die präzis und lebensnah die feinsten Details der beschriebenen Szenen einfängt. Manche Passagen vom Landleben, zwischen dem Dröhnen der Dreschmaschine, den Staubwolken, dem Geruch von Stroh, Öl und Schweiß, knotigen Männermuskeln bei der Arbeit, schließlich zotigen Gelagen nach Feierabend in der Scheune bis zum Hinsinken der ermatteten Körper, erinnern an die Beschreibungen Peter Handkes, sind jedoch knapper, schärfer, virulenter: ohne den Fernklang eines "anderen" Lebens.

Pierre Michon wird 70: Auch Schriftsteller haben zwei Körper. Erklärt Pierre Michon.

Auch Schriftsteller haben zwei Körper. Erklärt Pierre Michon.

(Foto: Ekko von Schwichow)

Pierre Michons Werke lesen sich, als wären sie unter dem Gebot einer absoluten inneren Dringlichkeit entstanden. Oft sind sie aus verschiedenen Einzeltexten komponiert. Resonanz von Zeitgeschichte oder von literarischen Strömungen ist bei diesem Autor nicht zu erwarten, obwohl er in seinen Texten historische Ereignisse und Figuren vom spätrömischen Kaiser Attalus bis zu den Malern Watteau, Goya, van Gogh auftreten lässt, und auch bereitwillig von seinen Reisen und öffentlichen Auftritten erzählt. Alles Biografische ist bei ihm zum immanenten Motiv destilliert, er lässt mit seinem scharfen Sarkasmus Rückschlüsse auf stilistische Einwirkungen kalt an sich abperlen. Auch Michons einziger Roman "Die Grande Beune" (1996) - ein Dorfschullehrer im Spannungsfeld zwischen zwei Frauen -, ein Buch, das der Autor auf knapp 90 Seiten zusammenstrich, ist ein meisterhaftes Konzentrat, das im tiefen Bett des Flusses Grande Beune am Dorfausgang Jahrhundertgeschichte rollen lässt und am Himmel darüber Löcher ins Kosmische reißt.

Der im Original 2002 erschienene Band "Körper des Königs", der nun in deutscher Übersetzung vorliegt, besteht aus fünf Texten, die anhand von Porträtfotos und Kommentaren zu Beckett, Flaubert, Ibn Magalî, Faulkner die Spaltung zwischen schreibendem und anekdotischem Ich untersucht - das Doppelwesen des Schriftstellers als Person und als Funktion wird mit den "zwei Körpern" des Königs gleichgesetzt. In einem Beckett-Porträt des türkischen Fotografen Lütfi Özkök aus dem Jahr 1961, konstatiert Michon, seien die beiden Seiten wie durch einen Zauberstreich deckungsgleich geworden. Mit seiner "himmlischen Magerkeit", den mit Hiobs Scherbe eingegrabenen Gesichtsfalten, der Zigarette im Mundwinkel sei er "schön wie ein König, die eisigen Augen, die Illusion des Feuers unter dem Eis, die strengen und vollkommenen Lippen, das ihm angeborene noli me tangere".

Pierre Michon wird 70: Pierre Michon: Körper des Königs. Aus dem Französischen von Anne Weber. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 100 Seiten, 17,95 Euro.

Pierre Michon: Körper des Königs. Aus dem Französischen von Anne Weber. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 100 Seiten, 17,95 Euro.

Das längste und eindrücklichste Stück des Buchs geht das Thema der literarischen Selbstverdoppelung jedoch auf autobiografischem Weg an. Gibt es nicht zumindest ein paar Akte, in denen das gespaltene Ich eins wird - zum Beispiel im Beten? Er habe selten gebetet, schreibt der Autor und zitiert mit kauzigen Nebeneffekten ein paar Situationen: einmal beim Tod seiner Mutter, ein andermal bei der Geburt seiner Tochter - da habe er lächelnd auf dem Bettrand gesessen und von Anfang bis Ende Victor Hugos Gedicht "Der Schlaf des Boas" aufgesagt.

In diesem Prosatext mit Hugos Gedicht als Orgelpunkt lässt Michon auf geniale Weise kleingerahmt Privates mit himmelweit Prinzipiellem kreisen in einem schlotterndem Reigen, der von Ewigkeitsahnung und reichlich Alkohol bestimmt ist. Eine öffentliche Lesung des "Schlafenden Boas" in der Pariser Nationalbibliothek endet nach einem durchgezechten Nachmittag spät abends in einem Bistro, wo die Hand des über sein Vaterglück fabulierenden Schriftstellers plötzlich völlig unkontrolliert auf dem Rock der am Tisch vorbeihuschenden Kellnerin landet. Ein Donnerwetter aus sechs Männerarmen erfasst den Schamlosen - "Hände weg von meinen Kellnerinnen!" Er landet draußen vor der Tür, ausgestreckt zwischen Krümeln und unbekannten Gästebeinen, fast schon schlafend wie Victor Hugos Boas, und blickt in den Pariser Nachthimmel. "Es ist gut" - fährt der Text fort - "dass die Väter schlafen; es ist mild und ungefährlich, dass die Imperatoren der toten Legion in Germanien ruhen": Karl der Große in Aachen, der französische Bibliotheksgründer François Mitterrand in Jarnac.

Pierre Michon: "Körper des Königs"

Eine Leseprobe stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Und es ist mehr als gut, dass dieser Meister der französischen Gegenwartsliteratur, der am Samstag siebzig Jahre alt wird, nach einem kurzen editorischen Anlauf bei Manholt in Deutschland aber lange unerkannt blieb, bei Suhrkamp nun einen zuverlässigen Verlag und in Anne Weber eine kongeniale Übersetzerin gefunden hat.

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