Malerei:Rhythmus und Kontrast

Das Spätwerk von Henri Matisse mit den Scherenschnitt-Bildern wird im Amsterdamer Stedelijk Museum ausgestellt.

Von Catrin Lorch

Der lange, gelbe Streifen zerfällt in Sekundenbruchteilen, bald hängt er als weiche, geschwungene Welle herab. Wieder setzt Henri Matisse mit der Schere an. Der Künstler ist schon über achtzig, als das Filmteam ihn besucht, trägt eine kleine Brille, nach mehreren Operationen sitzt er im Rollstuhl. Es gehört zum Mythos, dass alte Künstler auch in ihrem Werk schwächeln, blass und kraftlos werden - auch wenn es um Arbeit an der Staffelei und nicht um das Sägen und Zurichten von Marmor geht.

Die späten Seerosenbilder von Claude Monet wurden lange als leicht verschlierter Tümpel betrachtet: Impressionismus in Auflösung. Inzwischen hat die Kunstgeschichte sie als entspannte Herkules-Leistung anerkannt. Und auch die Scherenschnitte, die während der letzten Lebensjahre von Henri Matisse entstanden, werden neu bewertet: "Es ist ein verbreitetes Missverständnis, dass Matisse sich dem Scherenschnitt zuwandte, weil er nicht mehr länger in der Lage oder interessiert war an Gemälden", schreiben Bart Rutten und Geurt Imanse im Katalog der Ausstellung "The Oasis of Matisse" im Amsterdamer Stedelijk Museum. Die Ausstellung ist sozusagen die dritte Station der "Cut-Outs", die im New Yorker Museum of Modern Art und in der Tate Gallery London alle Besucherrekorde brachen. Weswegen auch das Amsterdamer Haus noch einmal auf die Schönheit der dramatisch reduzierten Scherenschnitte setzt: Das Publikum, sonst eher mäkelig, wenn ihm Papier präsentiert wird, begeistert sich für sie nun genauso wie für die Gemälde.

Denn tatsächlich ist es ein unendlich geschickter Virtuose, der das Gelb, Orange und Blau zuschneidet und in seiner Rechten ein schweres, eisernes Werkzeug hält von der Art, wie Schneider es verwenden. Man wird in der Ausstellung häufig an diese Stoffschere denken. Denn überall sieht man Stoff, geht es um Zuschnitt, Applikation und Dessin. Matisse ist der Künstler, der auf der Leinwand seine Odalisken auf persische Teppiche bettete, deren Muster sich eigensinniger ausstrecken dürfen als die Beine des Modells. Die Liebe zum Textil und zum Ornament wurde Matisse früh eingepflanzt: Der Vater stammte aus einer Familie von Webern, die Mutter bemalte Porzellan, und die Gegend, in der er aufwuchs, lebte von der Textilmanufaktur. Den ersten Zeichenunterricht erhielt Matisse an der École Quentin, wo man auch Tapeten- und Textildesign unterrichtete.

So viel Liebe zum Diesseits könnte einem Museum als verdächtig erscheinen, das sich mit seiner herausragenden Sammlung zum Suprematismus und zur streng formalen De-Stijl-Bewegung der Abstraktion verschrieben hat. Doch Amsterdam führt generös vor, dass sich Matisse im vollen Bewusstsein für die Figuration entschied. Dessen fast monochrom blaues "Vue de Notre-Dame" (1914) mag von den Konturen der Welt nicht lassen. Für Matisse scheint die Frage vielmehr zu sein, wie man die Verhältnisse innerhalb des Bildes austariert: 1910 begeistert er sich in München für islamische Kunst; dafür, wie sich dekorative Elemente plan über Bilder ausbreiten. Sein "Stillleben mit Orangenkorb" von 1912 lässt das blumenbestickte Tischtuch nicht etwa gefältelt über die Kante stürzen, vielmehr verkantet es das Muster im Interieur, intakt, ungestört. So gewinnt Matisse die Freiheit, Farbkontraste auszuspielen, der Komposition Rhythmus und Bewegung einzuschreiben, Tiefe mit Fläche zu verschachteln. Die Welt weicht zurück - aber er verlässt sie nicht.

Der erste "Schnitt", das sind genau genommen nicht die Kringel und Ornamente, die er in die enorm reduzierte Figur der "Femme en bleu" (1937) kratzt, sondern die schwarzen Dreiecke aus dickem Stoff, die der Künstler im Jahr 1920 auf eine weiße Kutte appliziert, die er für das Ballett "Le chant du rossignol" entwirft. Im Obergeschoss des Museums, in den Oberlichtsälen, dürfen dann endlich die großen Scherenschnitte über den Gemälden thronen: Die hohen Räume fassen mit Leichtigkeit nicht nur die mehr als drei Meter breiten Diptychen "Polynesie" und "Oceanie", sondern auch das mehr als sieben Meter breite Schlüsselwerk "La perruche et la sirène" (1952/53). Blätter, Äpfel und auch zwei zu schlanken Schemen verschmolzene Körper verbinden sich zum Allover. "Einen kleinen Garten zum drin herumlaufen" nannte Henri Matisse diesen auf Endlosigkeit angelegten Rapport. Daneben schweben zwei blaue "Nudes", deren Körper lose aus bunten Stückchen zusammengepusselt sind. Farbe ist hier Gesetz: Eine Blüte ist aus demselben Stoff - Magenta - wie der rechte Arm einer Figur.

Hier vollendet sich ein Werk in dem Moment, in dem die Öffentlichkeit dem Greis nur noch zugestehen will, auf dem Krankenlager Skizzenblöcke zu füllen. Matisse hilft das Papier, wirklich groß zu werden: Mit dem Bambusstock dirigiert er seine Assistentin, die Blüte um Blüte auf die Wand aufsteckt. Wo Matisse nicht länger Leinwände füllt, sondern Motive arrangiert, herrscht zuletzt völlige Schwerelosigkeit. Ozean und Meer rahmen sich in Schlingpflanzen und kennen keinen Horizont mehr, kein Oben und Unten. Die Virtuosität, mit der es Matisse im Alter gelingt, allen Regeln der materiellen Welt zu entkommen, vollendet die fauvistisch-wilde Eigengesetzlichkeit der Gemälde. Jetzt erst, wo man auf den Screens der digitalen Welt jedes Motiv neu ausbalancieren muss, wird die außerordentliche Qualität seiner Entwürfe nachvollziehbar. Das fast drei Meter hohe Quadrat "Les acanthes" von 1953 stellt nicht einmal mehr die Frage nach seinen Begrenzungen - die dicken Blätter wuchern einfach aus dem Weiß des Hintergrunds hervor. Statt Leinwand zu füllen, greift die Komposition hier nach dem Nichts.

The Oasis of Matisse im Stedelijk Museum, Amsterdan bis 16. August. Der Katalog kostet 25 Euro.

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