Kopfverletzungen im American Football:Wenn Sportler nur noch Spinnweben sehen

San Francisco 49ers v Arizona Cardinals

Helm ab, nicht nur zur Hymne: Chris Borland von den San Francisco 49ers beendet seine Karriere als Football-Profi aus Angst vor Folgeschäden.

(Foto: Getty Images)
  • Rücktritte und weniger Nachwuchs erschüttern den uramerikanischen Football-Sport.
  • Aus Angst vor Folgeschäden durch Kopfverletzungen beendet Profi Chris Borland von den San Francisco 49ers seine Karriere.
  • Das Milliardengeschäft läuft unverändert formidabel. Noch.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Spinnweben. Schneetreiben. Schwarze Punkte. Das sind die Dinge, die Chris Borland gesehen hat, als er während einer Trainingseinheit im vergangenen Herbst mit einem Kollegen zusammengestoßen war. "Das war der Moment, in dem ich bemerkt habe, was passieren kann, wenn ich das lange Zeit mache", sagt der Verteidiger der San Francisco 49ers. Oder besser: der ehemalige Verteidiger der 49ers.

Borland hat vor zwei Wochen seinen Rücktritt aus der professionellen Footballliga NFL erklärt, weil er den Rest seines Lebens dann doch lieber ohne Spinnweben, Schneetreiben und schwarze Punkte betrachten möchte: "Ich würde gerne ein langes, gesundes Leben führen - und nicht den Punkt erreichen, an dem ich mit meiner Gesundheit über Geld verhandle."

In dieser Woche haben sich die Besitzer der NFL-Vereine in Arizona getroffen. Bei diesen Gesprächen geht es um die Verteilung der Einnahmen (neun Milliarden Dollar in der vergangenen Saison), um die Erschließung neuer Märkte (im Jahr 2017 soll eine Partie in Deutschland ausgetragen werden), um Regeländerungen. Natürlich werden auch Probleme angesprochen wie das Verhalten der Akteure abseits des Spielfelds, mögliche Mogeleien - oder eben der Rücktritt eines 24 Jahre alten Mannes, der in den kommenden vier Spielzeiten 2,9 Millionen Dollar verdient hätte.

Chris Borland ist das Gesicht der Statistiken, die auf die Gefahren hinweisen

"Man muss diese Entscheidung respektieren. Es ist seine Einschätzung, Spieler treten andauernd zurück", sagte NFL-Chef Roger Goodell: "Sie wägen die Argumente ab, die bisweilen sehr persönlich sind." Natürlich treten Akteure andauernd zurück, in jedem Sport übrigens, doch verleiht gerade dieser Rücktritt der Debatte um die gesundheitlichen Folgen dieser Disziplin eine neue Dimension: Das ist kein Akteur, der 20 Jahre nach dem Ende seiner Laufbahn über Gedächtnisschwund klagt. Es ist auch keiner, der nach 15 Spielzeiten über schmerzende Knochen und Bänder lamentiert. Der Mann ist jung, er ist gesund - und er hat keine Lust, das für eine möglicherweise glanzvolle Karriere aufs Spiel zu setzen.

Borland ist nun das Gesicht der Statistiken, die auf die Gefahren dieses Sports hinweisen, der zum Selbstverständnis vieler Amerikaner gehört wie Burger und das Tragen einer Waffe. Football ist bei allen taktischen und technischen Finessen auch eine Demonstration der Stärke: den Gegner zu Boden rammen, Treffer wegstecken, nach einem Zusammenprall nicht liegen bleiben. So eine Dramaturgie lieben sie in den USA, das sehen sie sich gerne an. In der Liste der 50 erfolgreichsten TV- Sendungen des Jahres 2014 stehen 45 Footballspiele.

Wie im alten Rom, als sie sich die Köpfe einhauten

Sie sehen es sich immer noch gerne an. Aber sie wollen nicht mehr, dass ihre Kinder mitspielen. Das erinnert ein wenig ans alte Rom, als die Bürger den Gladiatoren zujubelten, als sie sich gegenseitig die Köpfen einhauten - aber keiner wäre auf die Idee gekommen, seinen Sohn in eine Gladiatorenschule zu schicken. So ist es heute in den USA: Die Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr in Football-Sommercamps, die Zahl der Anmeldungen ist in den vergangenen fünf Jahren um 20 Prozent zurückgegangen.

Es sind mittlerweile nicht mehr nur die Verletzungsstatistiken, die Eltern beunruhigen. Eine kürzlich von der NFL in Auftrag gegebene Studie ergab, dass etwa jeder dritte NFL-Profi eine ernsthafte Gehirnkrankheit erleben dürfte. Seit 2010 haben sich neun ehemalige Profis umgebracht. Die Universität Boston hat in 76 Gehirnen ehemaliger Spieler, die sie untersuchte, Defekte entdeckt; insgesamt waren 79 Proben genommen worden. Jake Locker, Jason Worlids, Patrick Willis, Maurice Jones-Drew - diese Spieler waren alle noch keine 30 Jahre alt und sind in den vergangenen Wochen zurückgetreten.

Was das Publikum vor allem anrührt: die emotionalen Aussagen jener, die den Sport betrieben haben - und die sich daran kaum noch erinnern können. Scott Fujita etwa erlitt während des NFL-Finales 2010 - er gewann mit den New Orleans Saints - eine Gehirnerschütterung und sah danach fünf Wochen lang "Spinnweben". Er trat jedoch nicht zurück. Nun hat er Probleme, sich an die Meisterschaft zu erinnern: "Im Grunde genommen war ich zu feige, doch ich bin der Ziellinie entgegengehumpelt."

Die NFL versucht sich als sicherere Liga zu verkaufen - das Geschäft brummt

Oder eben Borland, über den Fujita sagt: "Er hat das gemacht, worüber wir alle stets nachgedacht haben - vor allem, als meine Frau zu mir gesagt hat, dass ich mich wie ein anderer Mensch benehmen würde. Aber wenn du denkst, dass du noch einen Bissen von dem Apfel bekommen kannst, dann willst du auch abbeißen." Borland sei deshalb das Gesicht der Vernunft: "Es war eine kluge und mutige Entscheidung." Fujita sagt auch: "Die größte Gefahr für diesen Sport ist das Fehlen talentierter Spieler."

Die NFL versucht deshalb, sich selbst als immer sicherere Liga zu verkaufen. "Wir arbeiten seit jeher an der Sicherheit dieses Sports. In der vergangenen Spielzeit sind Gehirnerschütterungen um 25 Prozent zurückgegangen - das ist ein Trend, den wir seit drei Jahren beobachten", behauptet NFL-Chef Goodell, der auch eine Studie zitieren kann, nach der NFL-Spieler sogar länger leben als Durchschnitts-Amerikaner: "Und zwar signifikant, zwei oder drei Jahre." Signifikante Regeländerungen zur Erhöhung der Sicherheit dagegen wurden von den Vereinsbesitzern bislang nicht beschlossen.

Noch läuft das Geschäftsmodell formidabel, die TV-Rechte sind bis 2021 für knapp 40 Milliarden Dollar verkauft. Goodell ist ein Commissioner, der die Geschehnisse in der NFL gewöhnlich mit klarem Blick verfolgt - er hat ja auch nie Profi-Football gespielt. Er weiß, dass diesem Sport langfristig der Nachwuchs abhandenzukommen droht. Und er weiß, dass einer der wenigen Unterschiede zwischen dem alten Rom und der NFL jener ist: Niemand kann dazu gezwungen werden, dass er sich in der Arena kloppt.

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