Grafing:Ungemütliche Exzesse

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"Die Gemütlichen" wollten Traditionen wahren. Hier ein Bild aus dem Jahr 1924 von der Fahnenweihe zum 25-jährigen Bestehen des Burschenvereins. (Foto: Stadtarchiv/oh)

Anlässlich einer Neugründung hat Archivar Bernhard Schäfer die Geschichte der Burschenvereine in Grafing erforscht

Von Jan Linkersdörfer, Grafing

Sie nannten sich "Die Gemütlichen" - doch ihr Zusammenschluss ging einher mit einer "grässlichen Bluttat": Nur wenige Stunden nach der Gründung des Grafinger Burschenvereins im Mai 1899 kam es bei einer Tanzveranstaltung im Stanglwirt zu einem Mord. Mehrere Burschen waren aneinander geraten, die Situation eskalierte. Einer der jungen Männer, Johann Rossmüller, soll mit einem Messer mehrere Burschen angegriffen haben. Dabei tötete der Knecht aus Tulling den Grafinger Josef Hausladen mit einem Stich ins Herz. Nun gibt es in Grafing wieder einen Burschenverein, erst im Januar fand die erste Mitgliederversammlung statt. Das nahm der Archivar und Museumsleiter Bernhard Schäfer zum Anlass, nach der Geschichte der Vorgänger zu forschen. Seine Ergebnisse präsentierte er nun vor etwa 30 Zuhörern im Heckerbräu.

Es ist lange her, dass sich Junggesellen aus Grafing das letzte Mal zu einem Verein zusammenschlossen: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren alle Burschenvereine am Ort zerschlagen, Nachfolger gab es bis heute keine. Die älteste Quelle, auf die Schäfer bei seinen Recherchen gestoßen ist, ist ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 1899, in dem von der Gründung der Gemütlichen und dem Mord berichtet wird. "Dieses Geschehen warf natürlich einen Schatten auf den neuen Burschenverein", sagte Schäfer. Dennoch sei er genehmigt worden: 35 junge Männer aus Grafing schlossen damals ein Bündnis, um Traditionen zu wahren, Werte zu vermitteln und "Frohsinn und Scherz" zu zelebrieren, wie es in einer Erklärung der Gemütlichen heißt. "Das waren vor allem Abiturienten und Schulabgänger, die sich zu wilden Gruppen zusammenschlossen", erklärt Schäfer. Viel ist über den Burschenverein von damals nicht mehr herauszufinden, sämtliche Vereinsunterlagen sind verschollen. Alles, was Schäfer ausfindig machen konnte, sind Zeitungsartikel über Fahnenweihen, Jubiläumsfeiern und Burschenbälle. Letztere "wurden zu einer regelmäßigen Veranstaltung in Grafing. Die Gemütlichen hatten ihr Vereinsheim im Kastenwirt. Im Saal hielten sie ihre Bälle ab", so der Museumsleiter. Dabei sei es immer wieder zu "Raufexzessen" und "Missachtung der Polizeistunde" gekommen.

Viele Spuren haben die Gemütlichen in Grafing nicht hinterlassen, ein Relikt jedoch - ihre Fahne - hat die Jahrzehnte eventuell überdauert: Einer der Zuhörer will die vier Embleme der Burschen auf der Feuerwehrfahne in Nettelkofen wiederentdeckt haben. Darauf zu sehen sind die Nettelkofener Kapelle, die Pfarrkirche und die Mariensäule aus Grafing sowie ein paar überkreuzte Hände. Im Jahr 1911 bekamen die Gemütlichen Konkurrenz: Die katholischen Burschen gründeten einen Bauernverband in Grafing. Dieser war deutlich religiöser geprägt als die weltlich denkenden Gemütlichen. Keine Exzesse, vielmehr standen Kampf dem Alkoholkonsum und der "Dirnenlust" auf der Agenda.

Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus wurden die Burschenvereine zunehmend verdrängt. "Man wollte keine Vereine, die eine andere ideologische Ausrichtung als die der Nazis vertraten", erklärte Schäfer. Zunächst wurden die Gemütlichen gleichgeschaltet: Während sie noch im Jahr 1935 Ausflüge nach Obersalzberg zu Hitlers Ferienhort unternahmen, wurden sie 1936 dem Führerprinzip unterworfen und in die nationalsozialistische Jungbauernschaft eingegliedert. "Die katholischen Burschen waren den Nazis ein besonderer Dorn im Auge", sagte Schäfer und präsentierte ein Schreiben, indem der Ortsgruppenleiter der NSDAP Grafing den Burschen eine Mitgliederversammlung untersagt. Der Grund: Es seien Ferien, man habe kein Personal, um die Veranstaltung zu überwachen. "Da sieht man, wie das damals war", sagt Schäfer. "Man fand immer einen Vorwand - das hat die Vereine mürbe gemacht."

© SZ vom 30.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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