Direkte Demokratie in Deutschland:Bürger zwischen Beteiligung und Blockade

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Mehr Demokratie, jetzt - das fordern viele Bürger. Woher kommt dieser Wunsch? Und welche Schwächen hat Bürgerbeteiligung? Drei Knackpunkte:

  • Hauptsache dagegen: Wutbürger blockieren Deutschland, lautet ein Vorwurf. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache.
  • Kompetenzgerangel: Wer entscheidet über die Zukunft unserer Städte und Gemeinden? Engagierte Bewohner? Politiker? Oder die Fachleute in den Ämtern?
  • Soziale Verzerrung: In Initiativen engagieren sich meist bestimmte Bevölkerungsschichten - andere fallen hinten runter.

Von Hannah Beitzer

In Hamburg verhindern Bürger eine Schulreform. In München die Olympischen Spiele und die dritte Startbahn. In Berlin die Bebauung des Tempelhofer Feldes. In Bayern setzen sie das Rauchverbot durch. Spätestens seit dem Protest um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 sprechen Wissenschaftler von einer "neuen Macht der Bürger". Bei den Kritikern klingt das anders: Deutschland, blockiert von seinen Wutbürgern. Drei Knackpunkte der Bürgerbeteiligung und wie Experten sie diskutieren.

Droht Deutschland die Wutbürger-Blockade?

Olympia? Nö. Neue Wohnungen am Mauerpark? Brauchen wir nicht. Windräder, Stromtrassen? Aber doch nicht hier! Vor allem wenn es um Protest gegen Infrastrukturprojekte geht, kommt seit Stuttgart 21 häufig der Vorwurf: Der Bürger will halt einfach nicht, dass sich vor der eigenen Haustür was ändert. Und blockiert so den Fortschritt in Deutschland.

Doch obwohl in den vergangenen Jahren einige Großprojekte spektakulär in die Kritik geraten sind: Auf eine flächendeckende Blockade weisen die Zahlen eher nicht hin. Es gibt viele Bau- und Infrastrukturprojekte, über die sich kaum jemand aufregt - und die deshalb nie wegen Bürgerprotesten in die Schlagzeilen geraten. Etwa in Berlin: Fast 20 000 Wohnungen genehmigte der Berliner Senat allein 2014, davon mehr als 16 000 Neubauten. Es ist also beileibe nicht so, dass wütende Bürger in der Hauptstadt pauschal den Bau von Wohnungen verhindern. (Gründe für den Protest gegen die Bebauung des Tempelhofer Feldes finden Sie in diesem Text.)

Dem Verein Mehr Demokratie e.V. zufolge ist zwar in den vergangenen Jahren die Anzahl an landesweiten direktdemokratischen Initiativen gestiegen. Erfolgreich im Sinne der Antragsteller ist zumindest auf Landesebene aber nur eine Minderheit. 64 Prozent scheitern schon, bevor es überhaupt zu einem Volksentscheid kommt, zum Beispiel an der Unterschriftenhürde. Die Erfolgsquote aller Initiativen seit 1946 lag bei 29 Prozent, 2014 sogar außergewöhnlich niedrig bei nur 15 Prozent. (Den vollständigen Bericht von Mehr Demokratie finden Sie hier.)

Die Wahrheit ist schlicht: Ganz ähnlich wie Politiker können auch Bürgerinitiativen nicht immer eine ausreichende Anzahl von Menschen für sich gewinnen. Bestes Beispiel dafür ist die von der baden-württembergischen grün-roten Landesregierung initiierte Abstimmung über das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21. Dabei stellte sich heraus, dass die Baden-Württemberger vielleicht die Nase voll hatten von der selbstherrlichen Art der Vorgängerregierung, die sie in den Wahlen abgestraft hatten. Dass sie aber dem neuen Bahnhof mehrheitlich doch zustimmten.

Wer entscheidet worüber?

Tatsächlich geht es vielen Bürgern gar nicht nur um die Gegnerschaft zu einem bestimmten Projekt. Sondern auch um die grundsätzliche Frage: Wer entscheidet eigentlich, was in unseren Städten und Gemeinden passiert? Die Bürger, die in ihnen wohnen? Oder Politiker, die ihr Mandat alle paar Jahre in repräsentativen Wahlen erhalten? Fest steht, dass viele Menschen die gesetzlich festgeschriebenen Formen der Bürgerbeteiligung als unzureichend empfinden. Bestes Beispiel dafür ist die vielkritisierte Praxis, Pläne zwar in Rathäusern auszulegen und in Stadtratssitzungen vorzustellen, aber sie nicht etwa online zugänglich zu machen.

Ein Großteil des Unmuts über Stuttgart 21 oder die Tempelhofer-Feld-Pläne der Stadt Berlin kamen nach Einschätzung von Experten daher, dass die Politik den Menschen einen Masterplan präsentierte, der für nicht veränderbar erklärt wurde - selbst, wenn einige Kritikpunkte auch im Nachhinein noch hätten entkräftet werden können.

Inzwischen versucht die Politik zwar zunehmend, das Engagement der Bürger zu nutzen anstatt es als Angriff auf die eigene Kompetenz zu werten, fragt die Meinung und die Ideen der Einwohner ab - wie zuletzt etwa Hamburg und Berlin in Sachen Olympia. Darüber, wie weit die Entscheidungsmacht der Bürger gehen soll, gibt es allerdings nach wie vor unterschiedliche Vorstellungen. Politik und Verwaltung verstehen die Beiträge der Bürger häufig als einen von vielen Aspekten der Planung, sie spielen zwar eine Rolle, geben allerdings nicht den alleinigen Ausschlag, was passiert. Das wiederum frustriert die Bürger, die in der Erwartung ihre Meinung äußern, dadurch tatsächlich die Entscheidung der Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen. (Wie sich dieser Konflikt am Beispiel der Hamburger Busbeschleunigung äußert, lesen Sie in diesem Text.)

Ist direkte Demokratie gerechter?

Politiker haben für ihr Vorgehen ein gewichtiges Argument. Repräsentativ sind Beteiligungsprozesse nämlich nicht. In Bürgerinitiativen, die häufig direktdemokratische Prozesse anstoßen, beteiligen sich hauptsächlich bestimmte Bevölkerungsgruppen, ebenso an Diskussionsveranstaltungen. Ähnlich sieht es mit Online-Verfahren aus, die zwar inzwischen dank Vereinen wie Liquid Democracy einfacher zu bedienen sind als früher, aber trotzdem nur eine bestimmte Gruppe Menschen anziehen.

Oft sind es die Gebildeten und Selbstbewussten mit viel Zeit, die sich engagieren, ihre Ideen einbringen und lautstark protestieren, wenn ihnen etwas nicht passt. Studenten, aber auch Gutsituierte, die vielleicht schon in Rente sind. Andere Gruppen wie zum Beispiel berufstätige Eltern mit kleinen Kindern, Menschen mit geringem Bildungsabschluss oder Migranten können sich aus diversen Gründen nicht so intensiv engagieren. (Eine ausführliche Analyse zur ungleichen Verteilung bürgerschaftlichen Engagements finden Sie hier.)

Experten sprechen hier von sozialer Verzerrung - die übrigens auch in repräsentativen Wahlen vorkommt. Ärmere Menschen gehen seltener zur Wahl als wohlsituierte, Menschen ohne höheren Bildungsabschluss seltener als Akademiker. Doch in den repräsentativen Wahlen ist die soziale Verzerrung geringer als bei unkonventionellen Beteiligungsformen, die viel eigenes Engagement erfordern, wie zum Beispiel Bürgerinitiativen oder Unterschriftensammlungen. Das ist für viele Gegner von mehr Bürgerbeteiligung eines der wichtigsten Argumente, warum lieber repräsentativ gewählte Politiker die letzten Entscheidungen treffen sollten, als der viel kritisierte privilegierte Wutbürger. Sie sind entsprechend auch häufig dagegen, die Hürden für direktdemokratische Verfahren zu senken. Unterschriften- oder Beteiligungsquoren können demnach die soziale Verzerrung zumindest ein wenig korrigieren.

Fazit

In Bürgerprotesten geht es häufig nicht nur um die Ablehnung eines konkreten Projekts, sondern auch um die Frage: Wer entscheidet eigentlich über die Zukunft unserer Städte und Gemeinden? Ihre Bewohner? Oder Politiker, die ihr Amt in repräsentativen Wahlen erhalten? Eine Frage, die nicht einfach zu beantworten ist. Der Politik muss die Balance gelingen, ihre Wähler nicht zu frustrieren, ihr Engagement zu nutzen anstatt es zu blockieren. Sie dürfen aber auch den Teil der Bürger nicht aus den Augen verlieren, der zu wenig Zeit, Selbstbewusstsein oder Wissen für bürgerschaftliches Engagement hat.

Lesen Sie hier, warum das politische System in Deutschland möglicherweise nicht unter einem Zuwenig, sondern einem Zuviel an direkter Demokratie krankt.

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