Doku:Im Dickicht der Erinnerung

Helen Simon gibt in "Nirgendland" einen beklemmenden und aufschlussreichen Einblick in die paradoxen Überlebens- und Bewältigungsstrategien von Missbrauchsopfern.

Von Martina Knoben

Der Horror wohnt nebenan, in der Einfamilienhaus-Vorortidylle. Hierhin führt eine Autofahrt wie im Gruselfilm, zu einem Häuschen in einer ruhigen Straße, im Garten ein Busch, geschmückt mit vielen bunten Plastikostereiern. "Speckgürtel" wird der Ring von wohlhabenden Gemeinden um die Großstädte genannt - wenn je eine Gegend und ein Milieu die Bezeichnung verdient haben, dann diese.

"Ich wollte unbedingt eine heile Familie", sagt Tina Reuther; was nicht ins Bild passte, wurde passend gedacht. Ihr Vater missbrauchte sie jahrelang; die Mutter drohte mit Selbstmord, falls Tina jemandem davon erzählte. Tina, die damals noch Karin hieß - "aber Karin hat die Sache nicht überlebt" - verdrängte das Undenkbare so vollkommen, dass sie Jahre später die eigene Tochter ohne Bedenken über Nacht beim Opa ließ. "Es ist doch gar nichts passiert", hatte ihr der Vater immer wieder gesagt.

Helen Simon spürt in ihrem Dokumentarfilm dem qualvollen Erinnern von Tina Reuther nach, die womöglich nur weiterleben konnte, indem sie verdrängte, die als Erwachsene aber einen hohen Preis dafür zahlte. "Nirgendland" ist ein genauso beklemmender wie aufschlussreicher - und nötiger - Einblick in die paradoxen Überlebens- und Bewältigungsstrategien von Missbrauchsopfern. Wie wenig etwa mancher Richter davon versteht, macht der Ausgang des Prozesses deutlich, den Tina Reuthers Tochter Floh gegen den Opa führte - auch sie wurde über Jahre hinweg missbraucht. Der Film zitiert aus den Prozessakten: Am Ende wird der Opa freigesprochen, den Frauen Einverständnis in die Tat und eine Mitschuld suggeriert. Floh Reuther hat das nicht ertragen können.

"Nirgendland" ist Helen Simons Abschlussarbeit an der Münchner Filmhochschule - ein bemerkenswertes, zu Recht preisgekröntes Debüt. Ein Horrorfilm. Während die Bilder im Familienfotoalbum heiles Familienleben durchspielen, zeigt die Filmkamera dunkle Zimmerecken oder undurchdringliches Unterholz. Dass solche Anleihen beim Spannungskino nicht ganz ausgereift wirken, ist ein matter Einwand gegen einen Film, der sich parteiisch und furchtlos selbst in ein Dickicht wagt - und etwas Licht bringt in ein Durcheinander von Gefühlen: Schuld, Schmerz, Verdrängen und sogar Mitleid der Tochter mit dem Täter.

Nirgendland, D 2014 - Regie: Helen Simon. Buch: Helen Simon, Katharina Köster, David Lindner Leporda. Kamera: Carla Muresan. Schnitt: Nina Ergang. Verleih: Basis Film, 77 Minuten.

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