Erkenntnisse nach Niklas:Schuld ist immer die Bahn

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Gekrümmte Zeit, geschrumpfter Raum: Warum sich der Zusammenbruch des Bahnsystems wegen Orkantief "Niklas" anfühlt wie der Anbruch der Apokalypse.

Von Anja Perkuhn

Der Tagtraum von der Mobilität hat uns an den Eiern. Er hat uns nicht in der Hand oder gefangen - es ist schlimmer, er steckt tief in uns, hat sich in unser Ich gebohrt. Wer verweilt, der verpasst. Der kriegt nicht den besten Job, der findet nicht die schönste Wohnung, der nutzt das überquellende Angebot der Welt nicht und hat keinen Grund, bei seinen Facebook-Statusnachrichten die Ortsmarkierung anzuschalten.

Orkantief "Niklas" hat Deutschlands infrastrukturverwöhnte Menschen verwirrt - auf den Köpfen und in den Köpfen. Wie verschreckte Schäfchen standen Stunden nach der Durchsage, man solle sich eine Unterkunft suchen und heute nicht mehr reisen, noch Dutzende im Münchner Hauptbahnhof.

Auf Bayerns Bahngleisen lagen Bäume, Züge waren irgendwo gestrandet oder nach stundenlanger Wartedauer auf freier Strecke wieder zum Startpunkt zurückgefahren. Die große Halle des Münchner Bahnhofs war wegen Einsturzgefahr des Dachs geräumt und abgesperrt.

Orkantief "Niklas"
:Wie der Sturm in München wütet

Der Hauptbahnhof wird evakuiert, Pendler stecken fest, die S-Bahn stellt ihren Betrieb nahezu ein: Orkantief "Niklas" zieht mit Geschwindigkeiten von mehr als 100 Kilometern pro Stunde über München.

Von Martin Bernstein, Ekkehard Müller-Jentsch und Stefan Simon

Und in den Untergeschossen des Bahnhofs warteten sie und fragten immer wieder: Geht heute nicht vielleicht doch noch was?

Natürlich, da ging es um Termine. Um Familien. Um den Feierabend. Aber auch darum, dass uns ein Zusammenbruch unseres Mobilitätssystems kotzwütend macht. Vor allem, weil es die eigene Ohnmacht beweist.

Morddrohungen an den Gewerkschafts-Vorsitzenden

Die Wut beginnt in der halben Sekunde, in der man die Treppen zur U-Bahn herunterkommt und sieht: Verdammt, gerade weg - ganze acht Minuten warten! Und sie findet ihren Höhepunkt, wenn Betroffene einem Gewerkschafts-Vorsitzenden Morddrohungen schicken, weil ein Bahnstreik die Infrastruktur eines ganzen Landes tagelang lahmlegt.

Bei Streiks lässt sich im Notfall eine Gruppe Schuldiger finden: Maßlose Gewerkschaften, dickköpfige Arbeitgeber, oder wie aktuell in Argentinien die Regierung und ihre Steuerpolitik. Naturgewalten dagegen? Man mag Zeus versprechen, ihm beim nächsten Mal eine nicht so mickrige Ziege zu opfern, doch ein Sturm bleibt eine physikalische Notwendigkeit aus Luftschichten mit unterschiedlichem Druck, mit der sich schlecht verhandeln lässt.

Schimpftiraden über die Deutsche Bahn

Über Twitter beschimpften diverse Gestrandete die Deutsche Bahn oder fragten verzweifelt penetrant noch am späten Nachmittag, als der Schienenverkehr in Bayern schon lange offiziell eingestellt war: Fährt nicht doch noch ein Zug nach Regensburg, nur ein winzigkleiner?

Warum fühlt es sich in Deutschland wie der Anbruch der Zombieapokalypse an, wenn wir mal einen Tag lang nicht die Möglichkeit haben, innerhalb von sechseinhalb Stunden von München nach Berlin zu kommen?

Alles und jeder wird mobiler, muss mobiler werden, und schneller. Mobilität bildet die Basis unseres Lebens und Wirtschaftens. "Persönliche Freiheit, dauerhafter Wohlstand und eine hohe Konkurrenzfähigkeit im weltweiten Wettbewerb sind ohne Mobilität nicht denkbar", hieß es beim Deutschen Mobilitätskongress im November 2014. Einen "unentbehrlichen Ermöglichungscharakter" schreibt der Think Tank "Das Zukunftsinstitut" der ständigen Möglichkeit zur Fortbewegung zu.

Mobilität war aber nicht schon immer das Nonplusultra. Es gehört zur Geschichte der Menschheit, dass die, die mehr hatten, auch mehr reisen konnten, mehr von der Welt sahen und mehr mitbringen konnten zum Handeln oder Protzen.

Doch es war in der Regel ein großes Abenteuer. Der normale Mensch blieb in dem Ort, in dem er geboren war, und arbeitete oft im selben Gebäude, in dem er lebte. Im Römischen Reich zogen sich 80 000 Kilometer gepflasterte Straßen durchs Land - eine schöne Infrastruktur zur Fortbewegung. Die Straßen waren allerdings vor allem für die Soldaten verlegt worden.

Neue Mobilität im Mittelalter

Erst im 12. Jahrhundert kam es durch die Urbanisierung, wachsende Bevölkerung und wieder aufblühenden Handel und Gewerbe zu einem Wandel in der hochmittelalterlichen Gesellschaft in Deutschland: Es gab eine neue räumliche Mobilität. Kaufleute, Bettler und Kriminelle, Wanderarbeiter, die Söldner der großen Armeen, Dirnen im Gefolge, Studenten und auch Professoren zeigten eine nicht bekannte Wanderlust und kamen so in Kontakt mit dem Fremden.

Vom Pferd zum Pferdewagen zu Schiffen und zum Fahrrad - immer neue Beförderungsmöglichkeiten kamen, doch für Massenbewegungen waren sie eher nicht tauglich; ein Tourismus, wie wir ihn heute kennen, existierte nicht. Doch dann kam die Eisenbahn. Das Dampfschiff. Das Auto. Das Flugzeug.

Minden lag am äußersten Punkt

Durch technischen Fortschritt schrumpft der Raum, unablässig. Moderne Verkehrsmittel verkürzen den Zeitaufwand, der zur Raumbewältigung benötigt wird. Gemessen in Zeiteinheiten, schrumpft also das, was uns an Fläche zur Verfügung steht.

Das Institut für Raumplanung der TU Dortmund hat dazu "Zeitkarten" erstellt, die zeigen, wie sich der Raum verändert hat: Von Dortmund ausgehend, liegen am Anfang des 19. Jahrhunderts noch Aachen und Minden am äußersten Rand des Gebietes, das man in einer Tagesreise erschließen konnte. Mit einer Postkutsche ist man nicht schneller unterwegs als mit etwa zwölf Stundenkilometern.

Mit der Eisenbahn allerdings liegt plötzlich Berlin dort, wo früher Aachen lag. Heinrich Heine schrieb nach seiner erste Zugreise im Jahr 1843 für die Augsburger Allgemeine Zeitung: "Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahn wird Raum getötet, und es bleibt nur noch die Zeit übrig."

Deutschland als zentrales Land in Europa profitiert von diesem Totschlag. 1970 sind von Dortmund aus London, Stockholm und Mailand in einem Tag zu erreichen. In den frühen Achtzigerjahren ist zunächst der Train à Grand Vitesse (TGV) in Frankreich und in den frühen Neunzigerjahren der Intercity Express (ICE) in Deutschland mehr als 20 Mal so schnell unterwegs wie eine Postkutsche. Orte auf der iberischen Halbinsel, dem Balkan und im östlichsten Osteuropa liegen um die Ecke. Und alles andere gleich dahinter.

Doch bei der Mobilität geht es nicht nur um Reisen, Handel oder Gütertransport. In Deutschland gibt es immer mehr Menschen, die tagtäglich von ihrer Wohnung zur Arbeit pendeln und damit einen weiteren Aspekt in ihrem Leben haben, der vom Losfahren und Ankommen in einem bestimmten Zeitrahmen diktiert wird.

Um elf Prozent ist die Zahl der Pendler zwischen 2004 und 2012 laut dem Statistischen Bundesamt gestiegen. Nur knapp fünf Prozent der Erwerbstätigen hatten 2012 keinen Arbeitsweg, weil sie auf demselben Grundstück wohnten und arbeiteten. Der Rest: fährt von Montag bis Freitag zwischen zehn und mehr als 50 Kilometer weit, ehe er arbeitet.

Im VW in die Berge

Wortwörtlich beinahe einer Marathonstrecke entspricht der Weg, den ein Deutscher im Durchschnitt jeden Tag zurücklegt: 41,7 Kilometer waren es im Jahr 2013 laut einer Studie des Deutschen Mobilitätspanels (MOP) im Auftrag des Verkehrsministeriums. 95 Prozent aller Personen sind demnach an Wochentagen mobil - am Wochenende sind es knapp zehn Prozent weniger.

Wir rennen also ständig Zügen hinterher und stehen am Bahnhof auf der Rolltreppe. Wir ziehen für einen Job in eine fremde Stadt und gleichen den Stress im Job aus mit der Fahrt in einem VW Passat am Wochenende in die Berge.

Wir erleben und taggen, damit andere sehen, dass wir erleben. Wir besuchen oder kündigen es zumindest an und bleiben dann doch Zuhause, Pizza und Bier bringt jemand anders. Und im Marokko-Urlaub sind wir begeistert von der Redewendung "Insha'Allah", die etwa meint: Mal entspannt abwarten, ob der Zug heute noch kommt oder das Auto wirklich anspringt - und werden die 2467 Kilometer dorthin bestimmt noch einmal fliegen, weil es so schön war. Und weil es geht.

Der Pub am Bahnhof - ein Sehnsuchtsort

Tempo und Mobilität sind bezeichnend für den modernen, zukunftsoptimistischen Lebensstil. Es ist ein System, das sich selbst immer weiter zu Spitzenleistungen antreibt.

Was man allerdings hin und wieder mal ausbremsen darf. Wie einer der in München gestrandeten Reisenden am Dienstag: Er schickte über Twitter die Nachricht in die Welt, er werde jetzt in den bahnhofsnahen Pub gehen. Und würde sich über jeden immobilen Menschen freuen, der auch dorthin komme. Insha'Allah.

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