Vier Jahrzehnte in Russland:Himmel und Hölle

Participants perform during the International Military Music Festival 'Spasskaya Tower' in Moscow

Militärparaden, wie hier 2014 anlässlich des Internationalen Militärmusikfestivals "Spasskaya Tower", finden traditionell auf dem Roten Platz statt.

(Foto: REUTERS)

Kaum ein Staat beschäftigt die Deutschen so sehr wie Russland. Die SZ berichtet seit Sowjettagen über die Achterbahnfahrt der russischen Geschichte. Korrespondenten erinnern sich an ein wunderbares, wenn auch oft unglückliches Land.

Als sogar das Knäckebrot verschwand: 1972 bis 1979

Ein Gastronom ist jemand, der sich um verfeinerte Kochkunst bemüht. Im Sowjetland Leonid Breschnews hießen Tausende von schäbigen Supermärkten "Gastronom". Der unsere lag am Kalinin-Prospekt, heute: Neuer Arbat, jener Ausfallstraße, die vom Kreml in die westlichen Nobelviertel führte, wo auch unser Ausländerghetto lag.

Der Laden war zweistöckig und wegen seiner prominenten Lage gut bestückt. Man konnte dort 1972, zur Zeit unserer Ankunft, diverse Käsesorten kaufen wie "Sowjetski Camembert", nicht das Wahre, aber essbar, oder Schweijzarski, eine Art Emmentaler, der sich im Winter zu Raclette aufbereiten ließ.

Der Laden wurde zum Maßstab für den wirtschaftlichen Niedergang der UdSSR. Woche für Woche wurde das Angebot magerer. Plötzlich verschwand das vorzügliche Knäckebrot. Es kam nie wieder, und niemand stellte die Frage, was die Backfabrik stattdessen herstellte. Im nahen Fachgeschäft gingen die Glühbirnen aus. Ein kleiner Kühlschrank fürs Büro, den sich mancher Ausländer für 15 Devisenrubel mitnahm, war längst nicht mehr zu haben, als ich sieben Jahre später wegging.

Jeder wäre ein Hochstapler, der behaupten würde, er hätte vorausgesehen, dass es die UdSSR knapp ein Jahrzehnt später nicht mehr geben werde. Nur Dissidenten, die als überspannt galten, sagten den Untergang des Riesenreiches voraus. Einer verglich die Sowjetunion mit einem Flugzeug, das ohne Treibstoff im Gleitflug segle. Täglich gab es neue Witze über den jämmerlichen Zustand der Weltmacht. Dennoch galt sie als unveränderlich wie das russische Klima.

Während sich das politische Klima besserte, kamen mit der beginnenden Entspannung Bundeskanzler und US-Präsidenten nach Moskau. Breschnew besuchte die Bundesrepublik. Für uns Korrespondenten war die wichtigste Erleichterung des Helsinki-Abkommens, dass wir Mehrfach-Visa bekamen und uns nicht mehr vor jedem Auslandsflug um ein Ausreise- und Wiedereinreisevisum bemühen mussten.

Mit Glück konnte man an obskuren Kiosken die Süddeutsche Zeitung oder Le Monde kaufen. Sie waren beliebt, weil sie aus viel Papier für diverse Verwendungen bestanden, wo doch die Prawda selten über vier Blatt hinauskam. Chinesische Korrespondenten durften immer noch nicht sowjetische Spezial-Publikationen bestellen, die sich mit dem Fernen Osten befassten. Wir abonnierten für sie und wurden mit Peking-Ente belohnt.

Für den sowjetischen Konsumenten gab es kein Tauwetter. Im Gastronom wurde das halbwegs normale Angebot in den Regalen meterweise mit Nudelpaketen, dann mit Plastikspielzeug ersetzt. Schließlich wurde das Obergeschoss dauerhaft geschlossen. Ein richtiger Supermarkt war der Gastronom ohnehin nie. Der Käufer musste sich erst an der Käsetheke seinen Schweijzarski auswiegen lassen, dann an der Metzgertheke sein Fleisch, sich dann in die Kassenschlange einreihen, um mit seinen Coupons in die Endrunde zu gehen.

Man könne nirgends auf Erden so gut essen wie im Restaurant Praga, das am Anfang des Kalinin-Prospekts lag - hatte Nikita Chruschtschow behauptet. Ich aß bei einem Fest-Diner zu Ehren von Außenminister Genscher im Praga den einzigen Spargel meiner russischen Jahre, fein zerhackt zu Ragout. Der Normalrusse kam nicht leicht ins Praga oder in irgendein anderes Lokal.

"Kein Platz" stand auf einem Karton an der Tür, und ein kräftiger Mann mit Dienstmütze, von Deutschen "Zuhälter" genannt, drängte Vorwitzige zurück, wenn sie ihm nicht ein Päckchen ausländische Zigaretten oder einen Geldschein zuschoben. DDR-Bürgern, wenn sie sich auswiesen, schüttelte er die Hand, rief druschba, Freundschaft, und schmiss die Tür wieder zu.

Im besten Restaurant Leningrads, heute Sankt Petersburgs, hingen zwei Schilder. "Rauchen verboten" hieß das eine. Darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern, sagte der Kellner zum Gast. Das andere Schild bestand aus der Mahnung "Demütigen Sie unsere Mitarbeiter nicht durch Trinkgeld". Die Rechnung wurde mit der Bitte überreicht: "Demütigen Sie mich, demütigen Sie mich!"

Von Rudolph Chimelli

Sinatras "My Way" am Swimmingpool: 1984 bis 1992

Seit dem Tod des Diktators Joseph Stalin 1953 waren die Jahre unter Michail Gorbatschow von 1985 bis 1991 die folgenreichsten für das Land und für die ganze Welt. Gorbatschow wollte die Weltmacht durch innere Öffnung und Verständigung mit dem Westen neu beleben. Mit seiner Perestrojka (Umbau) trat er jedoch davonjagende Entwicklungen los.

Seine Politik erbrachte eine Begrenzung der atomaren Rüstung und ließ eine Befreiung des ostmitteleuropäischen Vorfelds und die Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik zu. Sie hatte aber auch den Auseinanderfall des Landes zur Folge. Der Westen erlebte das Ende des Kalten Kriegs triumphierend, eine Mehrheit der Russen aber als historisches Debakel. Die Bevölkerung blieb bis heute tiefreichend sowjetischen Traditionen verhaftet.

Gorbatschow ist im eigenen Land nie, wie etwa in Bonn oder Ostberlin, "Gorbi, Gorbi" zugejubelt worden. Die Bevölkerung wurde schnell ungeduldig, als die halbherzigen Wirtschaftsreformen nicht zur verkündeten "Beschleunigung" führten. Das unpopuläre "trockene Gesetz" zur Rationierung des Alkohols trug Gorbatschow auch noch den Spottnamen "Mineralsekretär" ein.

Große Wirkungen hatte die unter dem Namen glasnost ausgerufene freiere Öffentlichkeit. Ihre erste Prüfung, die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986, bestand sie zwar nicht; das Politbüro bestätigte die "Havarie" nur verspätet und zunächst verharmlost. Aber unterdrückte Literatur erschien nun in den sogenannten dicken Zeitschriften. Die Publizistik war wesentlich antistalinistisch intoniert. Am Rande rührte sich aber schon damals, im Bund mit den sowjetkonservativen Kräften in Partei und Militär ein russisch-nationalistischer Neostalinismus und Reichsrevanchismus. Verständigungen großen Maßstabs erzielte Gorbatschow bei der Rüstungskontrolle.

Bei einem Auslandsbesuch Gorbatschows konnten mitgereiste Korrespondenten beim Hotelfrühstück erleben, wie ihnen der Sprecher Gennadij Gerassimow aus dem Swimmingpool Frank Sinatras "I did it may way" vorsang. Aus dem Mund des elegant-zynischen Gerassimow trat zu dieser Zeit eine Art "Sinatra-Doktrin" an die Stelle der nach Breschnew benannten Lehre von der "beschränkten Souveränität" der Ostblockländer. Mit Breschnjews Doktrin war 1968 die Intervention gegen den "Prager Frühling" gerechtfertigt worden. Nun sagte Gerassimow, Polen und Ungarn machten es "auf ihre Weise", die Breschnew-Doktrin sei "tot".

Einen großen Verlust stellte der Tod des Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharows 1989 dar. Gorbatschow hatte den einstigen Miterfinder der sowjetischen Wasserstoffbombe, der sich für Menschenrechte und eine Ost-West-"Konvergenz" einsetzte, telefonisch aus der Verbannung zurückgerufen. Sacharow widmete sich ihr dann auch, bei gegenseitigem Respekt, wenn auch nicht immer zum Wohlgefallen Gorbatschows. Mit den Worten "wsjo, wsjo" (Schluss!) schaltete der politisch bedrängte Gorbatschow dem hartnäckigen Sacharow auf einem Volksdeputiertenkongress einmal sogar das Mikrofon ab.

Als tragische Verknotung erwies sich die Rivalität Boris Jelzins mit Gorbatschow. Von Juni 1991 an stand Jelzin als gewähltes Oberhaupt der Russischen Föderation Gorbatschow gegenüber. Er zog Gorbatschow den Boden unter den Füßen weg, dabei hatte er selbst keine klare Vorstellungen von einer Staatlichkeit Russlands. Glasnost, Abkehr von der Breschnjew-Doktrin und die Bildung politischer Bewegungen setzten nationale Zentrifugalkräfte im Baltikum, im Kaukasus und der westlichen Ukraine frei.

Eine durchdachte Antwort darauf fand Gorbatschow nicht. Stattdessen duldete er stillschweigend Gewalt von Armee- und Polizeikräften gegen Demonstranten. Er flüchtete in ein Zweckbündnis mit der aggressiven Mehrheit von Sowjetkonservativen, bis diese im August 1991 während seines Krim-Urlaubs einen kläglichen Putschversuch unternahmen.

Jelzin ging als der Sieger über die Putschisten aus dem Konflikt hervor. Damit war Gorbatschow endgültig Herrscher ohne Land und trat als sowjetischer Präsident zurück.

Von Bernhard Küppers

Misslungene Privatisierung, Panzer vor dem Parlament: 1992 bis 1997

Hunderte von Menschen lagerten während des Sommers 1992 auf der Wiese gegenüber dem Kiewer Bahnhof. Es waren Sinti und Roma, meist aus Moldawien. In ihrer Heimat, die wie alle Sowjetrepubliken unvorbereitet unabhängig geworden war, herrschte Armut, auch eine Folge der Antialkoholkampagne Gorbatschows: Vier Fünftel der Weinreben waren abgeholzt worden. Die Auflösung der Zentralgewalt ließ eine Kriminalitätswelle durch das zerborstene Riesenreich rollen. Im Viertel um den Kiewer Bahnhof, in dem sich auch das SZ-Büro befindet, raubten Kinderbanden am hellen Tag Passanten aus.

Am Rande der ehemaligen Sowjetunion brachen Kämpfe aus. Erstmals sahen die Korrespondenten in der georgischen Provinz Abchasien 1992 Jagdflugzeuge und Soldaten ohne Kennzeichnung: Es waren russische Einheiten, die den Georgiern eine Niederlage beibrachten und den ersten "eingefrorenen Konflikt" in den abtrünnigen Republiken schufen.

Der neue Kremlchef Boris Jelzin kontrollierte nicht das gesamte Militär und musste sich gegen eine aggressive Opposition aus rechtsextremen und kommunistischen Kräften wehren. Sein größter Feind aber war der Alkohol. Jelzin hatte sich bei der Notlandung eines Privatflugzeugs in Spanien im Frühjahr 1991 mehrere Rückenwirbel angeknackst. Es gingen Gerüchte, der KGB habe dahintergesteckt.

Wegen des Machtkampfes missachtete er die Anweisungen der Ärzte. Die Brüche verheilten nicht richtig, gegen die Schmerzschübe bekam er Kortison. Dazu ließ er nicht von seinen Trinkgewohnheiten ab: Innerhalb weniger Jahre wurde aus dem durchtrainierten Volkstribun, der auf einem Schützenpanzer im August 1991 die Moskauer zum Widerstand gegen den Putsch anfeuerte, ein aufgedunsener Greis, der sich bewegte wie ein Roboter.

Dabei hatte Jelzin zunächst klare Vorstellungen über die Reformen. Allerdings klärte seine Mannschaft die Bevölkerung nicht auf. Der große Privatisierungsplan etwa, um den Belegschaften Anteile an den Betrieben und den Mietern ihre Wohnungen zu überschreiben, scheiterte. Viele wussten nicht, was sie mit den Anteilsscheinen anfangen sollten. Die Cleveren aber übernahmen zu symbolischen Preisen Fabriken und Immobilien. So entstand aus der Partei- und Geheimdienstnomenklatura und ein paar Aufsteigern ein korruptes Oligarchensystem.

Weichen wurden falsch gestellt. Das Parlament, der Volksdeputiertenkongress, verabschiedete ein Gesetz, nach dem es "alle politischen Fragen" entschied. Dies bedeutete eine Entmachtung des Präsidenten, Jelzin erklärte das Parlament für aufgelöst, die die Abgeordneten setzten ihn daraufhin ab. Jelzin brachte Militär und Geheimdienst auf seine Seite - und ließ das Parlamentsgebäude, damals das Weiße Haus an der Moskwa, absperren. Der Fehler: Anstatt Strom und Wasser abzudrehen, ließen die Generäle es beschießen, es ging in Flammen auf.

Falsche Weichenstellungen Nr. 2 und 3: Jelzins Berater entwarfen eine neue Verfassung, die den Präsidenten über die anderen Gewalten stellte. Noch hätte die Duma diesen Entwurf ändern können. Aber der prominente Reformer Grigori Jawlinski war sich zu fein, mit anderen Reformern einen Parteienblock zu bilden. So bekam das zerstrittene demokratische Lager nicht genug Mandate, obwohl es die meisten Stimmen hatte; das Rennen machte der Rechtsradikale Wladimir Schirinowski. Der Kreml musste Kompromisse mit Schirinowski schließen und Reformer entlassen, die Politik bekam einen Rechtsdrall.

Ein Jahr später der schlimmste Fehler: der erste Tschetschenien-Krieg. Tschetscheniens Präsident Dschochar Dudajew, Ex-General der sowjetischen Luftwaffe, ging es vor allem um einen Anteil an der Rohstoffproduktion. Grosny, Hauptstadt Tschetscheniens, war europäisch geprägt, ebenso wie die Elite der Region. Doch der Kreml ließ die Stadt, in der die Mehrheit der Einwohner Russen waren, in Grund und Boden bomben. Viele der ehemaligen Satelliten strebten nun aus Angst vor Moskau mit aller Macht in Nato und EU.

Viele Russen litten unter dem Phantomschmerz des verlorenen Imperiums. So wurde der US-Botschafter in Moskau auf einer Pressekonferenz gefragt: "Wird Washington Russland als Supermacht anerkennen?" Der Botschafter: "Supermacht ist man - da bittet man nicht um Anerkennung."

Das innenpolitische Klima verhärtete sich. Die Aufarbeitung des Sowjeterbes versandete; symbolisch stand dafür die Einstellung des Verfahrens wegen der Ermordung polnischer Offiziere im Wald von Katyn 1940. Kein einziges Urteil wurde je gegen Täter der sowjetischen Repressionsapparate verhängt. Doch herrschte wieder Ordnung, zumindest im Zentrum Moskaus: Man konnte nachts zu Fuß vom Bolschoi-Theater heimkehren, ohne sich auch nur einen Moment bedroht zu fühlen. Denn an allen Ecken standen Polizisten oder private Wachleute.

Von Thomas Urban

Ein Krieg, der einen blassen Geheimdienstler populär machte: 1999 bis 2004

Der erste Kaukasus-Krieg war brutal, der zweite war ein Horror. Auch wenn russische Politik immer viel mehr war als nur Tschetschenien und der Kaukasus: Eben dieser Krieg in den Bergen prägte die frühen Putin-Jahre. Und diese Jahre wiederum prägen das Land und seinen Führer, bis heute.

Die Soldaten der gewesenen Supermacht fielen Ende 1999 über einen winzigen kaukasischen Pseudostaat her, ein bisschen Flachland, sehr hohe Berge, Landwirtschaft, ein paar vertrocknende Ölquellen. Dazu eine unfähige Regierung, die nur noch Fassade war für einen Haufen von Islamisten, Terroristen, Kriminellen, Geiselnehmern.

Vor allem aber ein Russland, das sich gekränkt fühlte durch das unausgegorene Unabhängigkeitstreben von Menschen, die schon in der Sowjetunion nur Bürger zweiter Klasse waren, von den meisten als "Schwarzköpfe" geschmäht wurden, und nun, nach dem ruhmlosen Untergang der UdSSR, aufbegehrten.

An der Grenze, in der Etappe, hockten in diesem Krieg die russischen Offiziere mit ihren Huren und den Wodkaflaschen am Hoteltresen, während in Grosny und in den Bergen ihre Soldaten starben, zusammen mit den Tschetschenen, ob Rebellen oder Zivilisten, Kinder, Frauen. Auf der Ladefläche eines Armeelasters, versteckt zwischen Kartoffel- und Zwiebelsäcken, waren wir in die von den russischen Jets und den Kanonen zerstörte Stadt gekommen.

Die Aufständischen waren kurz zuvor aus der zur Festung erklärten Hauptstadt geflohen, unter grässlichen Verlusten. Grosny blieb für Journalisten gesperrt. Aber dieser Krieg folgte seinen russischen Regeln. Für ein paar Rubel hatte uns ein Trupp Omon-Milizionäre adoptiert. Der deutsche Schreiberling und sein russischer Fotograf versprachen Abwechslung und Unterhaltung.

Wir liefen mit ihnen durch zerbombte Straßenzüge, sie schossen ein bisschen um sich, warfen Handgranaten in Keller, in denen sich vielleicht Menschen versteckten. Sie traten Wohnungstüren ein, plünderten und marodierten, fuhren die Beute auf hoch beladenen Militärlastwagen ab. Am Abend, im Mannschaftszelt, stießen sie schweigend mit Wodka auf ihre Gefallenen an. Einer holte abgeschnittene Ohren aus dem Proviantbeutel. Es waren die Ohren von Tschetschenen.

Auch die Rebellen konnten wir treffen, in der Stadt, in den Bergen. Es war schwierig, eine Grenzlinie zwischen echtem Unabhängigkeitsstreben und der Hingabe an einen Kult sinnloser Gewalt zu erkennen. Was heute zählt, ist ohnehin etwas anderes, erkennbar erst in der Rückschau auf die eigene Moskauer Zeit: Nichts zeigte so klar wie dieser zweite Tschetschenien-Krieg, wie Wladimir Putin Politik begreift und betreibt.

Vom altersschwachen, alkoholgezeichneten Jelzin zum Premierminister ernannt, ließ der Sowjet-Geheimdienstmann die Armee sofort in Tschetschenien einmarschieren. Die winzige Kaukasus-Republik war unbestreitbar zum Terroristennest verkommen, in den Bergen wurden Islamisten-Emirate ausgerufen. Die Stimmung in Russland war zutiefst antitschetschenisch. Und der neue Regierungschef brauchte einen kleinen, einen siegreichen Krieg. Er schaffte ihn sich.

Bald ritt Putin auf einer Welle der Popularität. Die Tschetschenen spielten ihm fast nach Drehbuch in die Hände. Als ein tschetschenisches Kommando 2002 ein Moskauer Musical-Theater stürmte und fast 900 Geiseln nahm, zeigte der Präsident sich unbeirrbar: Er begann zu verhandeln, ließ dann ein gasförmiges Betäubungsmittel für Elefanten und anderes Großwild in die Belüftungsanlagen des Theaters pumpen. Dann stürmten seine Spezialeinheiten. Auch das ein echter Putin: Das Blutbad bei der "Geiselbefreiung" war mit 129 getöteten Theatergästen gewaltig, das große Sterben hätte sich möglicherweise vermeiden lassen. Aber Verhandeln mit Russlands Feinden war Putins Sache nicht. Die harte Hand schon.

Die zeigte er auch gegenüber seinen innenpolitischen Gegnern. Die Zeiten, in denen sich die Puppen der Marionetten-Satiresendung "Kukly" über den greisen Jelzin und seinen Echsengesichtigen Assistenten Putin auf das Derbste mokierten, sie waren als Erstes vorbei (und damit ein Teil der Samstag-Abend-Unterhaltung).

Auch die legendären Oligarchen, die das Erbe des Sowjetstaats schamlos geplündert haben und mit den gestohlenen Milliarden zu Nebenregenten im Jelzin-Kreml geworden waren: Putin entledigte sich ihrer, ob es die Medienmogule waren oder die Ölprinzen. Die Oligarchen flohen ins Exil oder landeten im Gefängnis.

Kritische Journalisten ebenso, wenn sie nicht unter merkwürdigen Umständen starben. Das Wort Wahlen klang jetzt sowjetisch, Panzer rollten bei der Mai-Parade über den Roten Platz , die schöne, alte Sowjethymne wurde reanimiert. Putin nahm den Russen Freiheiten, aber bediente ihre Nostalgie mit dem wiedererweckten Gefühl russischer Größe.

Der zweite Tschetschenien-Krieg war Putins Gesellenstück - auf der Krim und im Osten der Ukraine strebt er nun nach Meisterschaft. Es geht um Russlands Geltung als Großmacht. Es geht um den starken Staat, mit dem starken Mann an der Spitze. Die frühen Zweitausender waren Putins Lehrjahre.

Von Tomas Avenarius

Ein Blutbad, das nie aufgeklärt wurde: 2004 bis 2008

Mit Georgij Berojew hätte ich gerne noch einmal gesprochen. Kennengelernt hatte ich ihn zwei Tage, nachdem russische Spezialeinheiten die Schule Nummer eins in Beslan gestürmt und die Geiselnahme dort um den Preis von 331 Toten beendet hatten. Es ging damals darum, ob Georgij Berojew womöglich etwas beobachtet hat; von seiner Wohnung aus blickte er direkt auf den Schulhof. Der alte Herr bat uns herein. Was er gesehen hatte?

Aslan und Suslan hatte er gesehen, wie sie am ersten Tag nach den Ferien fröhlich den kurzen Weg zur Schule gelaufen waren. Die Zwillinge, neun Jahre alt, wohnten seit der Scheidung ihrer Mutter bei Georgij und seiner Frau, ihren Großeltern. Während der drei Tage der Geiselnahme hatte Georgij in seiner Wohnung ausgeharrt, den Ort des Martyriums seiner Enkel im Blick. Georgij Berojew erzählte davon, wie sich Spezialtruppen nebenan einquartiert hatten. Von den Schüssen, die ihm die Hoffnung raubten. Aslan brachten sie noch ins Krankenhaus. Auch er sollte, das wusste der Großvater schon, als wir ihn trafen, nicht wiederkommen.

Die Geiselnahme in Beslan begann am 1. September 2004. Zunächst als Terrorakt, der das bekannte Grauen etwa bei der Geiselnahme in einem Moskauer Musical-Theater noch übertraf. Es war ein Einschnitt und ich erlebte ihn nur einen Monat, nachdem ich meine Korrespondentenstelle in Moskau angetreten hatte.

Von der Wohnung Berojews waren es nur ein paar Schritte zu dem, was von der Schule übrig geblieben war. Absperrungen waren keine mehr da. Stumm näherten sich verstörte Männer und Frauen, erst wenige, dann immer mehr. Sie traten zwischen die Grundmauern, stolperten hilflos über den rußbedeckten Boden. Hier und dort lagen noch ein paar Schuhe von Kindern und Frauen. Vor die Trümmer hatte jemand blaue und grüne Schülerrucksäcke übereinandergestapelt.

Zwei Tage nach dem Ende der Geiselnahme wanderten so Hunderte, vielleicht auch Tausende Einwohner der nordossetischen Stadt durch das Schulgelände, berührten, was sie konnten, als sei das Grauen so zu fassen. Spurensicherung spielte keine Rolle. Die zumeist tschetschenischen und inguschetischen Geiselnehmer waren tot, damit war die Angelegenheit aus Sicht der russischen Behörden erledigt. Aufklärung war nicht vorgesehen.

Eine Woche nach der Katastrophe zeigte sich Präsident Wladimir Putin im Fernsehen. "Der Kampf gegen den Terrorismus erfordert gründliche Veränderungen in der gesamten russischen Politik wie auch im nördlichen Kaukasus, wo es zu einer beklagenswerten Situation gekommen ist", sagte er. Die Direktwahl der Gouverneure würde nun abgeschafft werden, fortan sollten sie vom Präsidenten bestimmt werden. Auch für das Abgeordnetenhaus kündigte Putin weitreichende Veränderungen durch die Einführung eines reinen Verhältniswahlrechts an. Die Direktwahl der Hälfte der Abgeordneten hatte bislang einigen unabhängigen Geistern den Weg ins Parlament geebnet, damit sollte Schluss sein.

2004 hielt ich Beslan für ein Ereignis, das Russland verändern würde. Aber Beslan reihte sich nur in eine Kette von Katastrophen ein, die Wladimir Putin die Gelegenheit gaben, das Land nach seinem Willen zu verändern.

Ein Jahr danach klingelten wir an der Wohnungstür in der Schulgasse 39. Eine ältere Ossetin öffnete die Tür. Es war Swjeta, Georgij Berojews Frau. Sie war nicht überrascht. Georgij hatte erzählt, dass Journalisten da gewesen seien nach der Katastrophe. Sein Sohn Wadim war zu Besuch. Von Beruf war er Milizionär, aber den Job hatte er aufgegeben nach der Katastrophe. Und der Vater? Der habe, erzählte Wadim, einfach aufgehört zu essen und zu trinken. Seine Enkel Suslan und Aslan überlebte Georgij Berojew um 127 Tage.

Von Daniel Brössler

Die "Beilage" im Georgien-Krieg: 2008 bis 2011

Als der künftige Präsident Russlands im Frühjahr 2008 durch Moskau rollte, passierte er ein großes Nichts. Freigeräumt waren die Magistralen, ausgestorben und abgeriegelt die Plätze um den Kreml, verlassen die ganze tosende Stadt. Dmitrij Medwedjew, noch kleiner von Wuchs als sein Vorgänger Putin, wurde im Frühjahr 2008 Präsident Russlands. Aber am Tag seiner Inauguration zeigten ihn die Fernsehbilder als Herrscher in einem leeren Land.

Dennoch verbanden sich Hoffnungen mit ihm. Medwedjew schien so anders als Putin, moderner, reformfreudiger, kritikfähiger, kurz (wenn auch falsch): westlicher. Gewiss, es gab diese Witze, darüber, dass er nicht viel zu sagen hatte. Putin und Medwedjew im Restaurant. Putin: "Ich nehme das Steak." - Kellner: "Und die Beilage?" - Putin: "Die Beilage nimmt auch Steak."

Aber Medwedjew, der Jurist, praktizierte Yoga, trank grünen Tee, sprach über die Bildungsmisere, die Rohstoffabhängigkeit, Korruption, Rechtswillkür. Er förderte eine kunterbunte Manager-Hochschule am Stadtrand von Moskau und Thinktanks, die den Reformstau so offen analysierten, wie man es sich heute kaum mehr vorstellen kann. Der Ölpreis war schwindelerregend hoch. Wann sollte Russland seine Zukunft erobern, wenn nicht jetzt?

Es gab Einbrüche. Der Georgien-Krieg zum Beispiel, ein verlustreicher Fünftagekrieg um die abtrünnige georgische Provinz Südossetien. Monatelang hatten sich Moskau und Tiflis an Provokationen überboten. Tiflis schikanierte die Osseten. Moskau verteilte Pässe im Nachbarland. Aus heutiger Sicht wirkt es wie eine Vorübung für die Krim-Krise. Damals aber, man muss es klar sagen, schoss nicht Moskau, sondern Tiflis zuerst.

Der georgische Präsident Michail Saakaschwili, "Rosenrevolutionär", autokratischer Populist, radikal pro-amerikanisch, anti-russisch und einen Schuss größenwahnsinnig, ließ in einer Augustnacht 2008 Südossetien bombardieren. Und Russland schlug zurück, schickte Panzer durch den Roki-Tunnel, verhinderte einen "Völkermord" im Nachbarland.

Als die Waffen schwiegen, schaffte der russische Geheimdienst Korrespondenten nach Zchinwali und führte dankbare Südosseten vor. Reporterfrage: "Wie oft haben Sie Ihre Geschichte schon erzählt?" - Antwort: "Fünfmal." Valery Gergiev, demnächst Chef der Münchner Philharmoniker und als Südossete glühender Putin- und Kreml- und Russlandverehrer, reiste damals in die südossetische Hauptstadt Zchinwali.

Dort spielte er vor einem Kerzenmeer in den Ruinen eines anderen Krieges Schostakowitschs Leningrader Sinfonie, jenes Werk, das dieser während der Belagerung Leningrads geschrieben hatte. Das russische Fernsehen übertrug landesweit. Die geretteten Südosseten in Zchinwali rangen um Fassung. Es war ein unvergesslicher Moment: widerwärtig in seinem nationalistischen Propaganda-Effekt, erschütternd angesichts des menschlichen Leids.

Und ausgerechnet Medwedjew, der Westler, tat das Undenkbare: Er riss in einer hysterisch-nationalistischen Stimmung ein Stück Land aus dem georgischen Nachbarstaat und erkannte Südossetien als eigene Republik an. Auch dies klingt wie eine Generalprobe für die Krim. Aber so hoch die Wellen der Empörung in Moskau schlugen über den undankbaren, begriffsstutzigen, russlandfeindlichen Westen - sie beruhigten sich wieder.

Russland und der Westen überstanden Gaskrisen in der Ukraine, den zweiten Chodorkowski-Prozess, der den Unternehmer zum Popstar der Opposition machte, die Drangsalierung von Künstlern durch nationalistische Popen, sogar politische Morde. Der Anwalt Stanislaw Markelow und die Journalistin Anastasija Baburowa wurden einen Steinwurf vom Kreml entfernt erschossen. Trauernde legten Blumen am Tatort nieder und hinterließen rote Spuren im Schnee: Das Blut war noch frisch.

US-Präsident Obama kam nach Moskau. Pressekonferenz im Kreml. Die US-Kollegen aus dem Weißen Haus sichtlich bemüht, sich unbeeindruckt zu geben in einem Medienzentrum mit wagenradgroßen Kronenleuchtern, meterhohen Samowaren und livrierten Dienern. Und die Russen? Shoppten, konsumierten und tranken mehr denn je, gingen ins wunderbare Tschaikowsky-Konservatorium oder in Restaurants mit echten Kühen und kümmerten sich nicht sehr um die Politik. Medwedjew blieb ein uneingelöstes Versprechen. Russland wurde kein Rechtsstaat, lebte weiter von Rohstoffen, konnte die Abwanderung der Besten und Klügsten nicht aufhalten. Und doch, aus heutiger Sicht: keine schlechte Zeit.

Von Sonja Zekri

Wie der russische Frühling ausfiel: 2008 bis 2013

Es war ein einziger Moment, in dem die Choreografie versagte und klar wurde: Nur die russische Nationalhymne kann Wladimir Putin noch stoppen. Entweder preschte er zu schnell voran, oder der Tontechniker war etwas schlafmützig. Putin jedenfalls musste auf dem Weg ans Rednerpult abrupt bremsen, als überraschend die Hymne einsetzte. Dann ging er weiter. Es war Samstagmittag, Parteitag in Moskau, der 24. September 2011, und für Russland eine Zäsur: Putin kam zurück.

Viele Russen hatten nicht mehr so recht daran geglaubt, aber wenigstens gehofft, Dmitrij Medwedjew würde eine zweite Amtszeit bekommen. Die Illusion wurde ihnen geraubt, als Putin seine Rede begann und verkündete, Kreml-Chef wolle er nun wieder selber sein. Draußen, vor dem Absperrgitter, sagte ein Delegierter, pure Glückseligkeit in den Augen: "Das Land bewegt sich jetzt nach vorn." In anderen Köpfen dagegen schwirrten Fluchtgedanken.

Der Ämtertausch zwischen Medwedjew und Putin, rokirowka genannt, abgebrüht inszeniert, polarisierte Moskau. Putins Anhänger fanden, dass Russlands starkem Mann eben auch das stärkste Amt zusteht. Seine Gegner meinten, dass das Land ohne Putin sehr viel besser klarkommen würde. Kurz darauf machten sie das auf den Straßen deutlich. Die Parlamentswahl 2011 bot ihnen Gelegenheit dazu.

Es war eine Wahl voller Tricks, Schikanen und Fälschungen. Liberale Parteien wurden ausgebootet, ein Student erzählt, er habe ein Konzertticket angeboten bekommen für das Kreuz an der rechten Stelle. Drei Monate lagen zwischen der Parlamentswahl und der Präsidentenwahl; eine Zeit, in der viele Russen nach Veränderungen gierten.

Hunderttausend Menschen füllten in Moskau die Straßen; der Bolotnaja-Platz wurde zum Aufmarschplatz unzufriedener Russen, das weiße Bändchen zum Symbol für den Wunsch nach mehr Ehrlichkeit. Viele spürten, der Nachbar geht ja auch zur Demo, der Arbeitskollege auch. Sie fühlten sich nicht allein. Wie Natascha Priwalichina, 17, Schülerin, die untergehakt bei ihrer Mutter, ein weißes Bändchen an der Jacke, sagte: "Wenn der Stillstand weitergeht und ich keine Perspektive habe, will ich nicht bleiben."

Bunt und pfiffig war die Protestwelle; die Medien wurden mutiger, Kritik an der Regierung robbte sich bis auf die Titelseiten der Zeitungen; Satiriker fanden nach langer Schattenexistenz wieder ans Licht, die Band Rabfak feierte einen Erfolg mit einem Refrain, für den ihr heute wohl einiges blühen würde, nämlich: "Unser Irrenhaus stimmt für Putin." Ein bisschen war Russland außer Rand und Band, aber die Führung hatte auch ihre Instrumente. Und sie setzte sie ein.

Schulprüfungen wurden kurzfristig auf den Tag der Demonstration gelegt, Staatsbedienstete und Lehrer beschwerten sich, sie seien von ihren Chefs gedrängt worden, auf eine Kundgebung für Putin zu gehen. Der Fernsehsender "Doschd", Plattform der neuen liberalen Protestgesellschaft, musste sich vor der Justiz rechtfertigen.

Putin gewann die Wahl, und noch im Taumel des Sieges war zu spüren, dass nun die Zeit der Abrechnung folgen würde. Am Wahlabend kam Putin zum Manegenplatz am Rande des Kremls. Ein scharfer Wind ging, und niemand wusste, ob dieser Wind es war, der ihn Tränen kullern ließ, oder der Triumph. Putin hätte auf seine Kritiker zugehen können, wie es viele Politiker nach einem aufwühlenden Wahlkampf tun. Nein, Putin warf ihnen vor, das Land zu spalten.

Noch am Ende einer langen Nacht, in den Räumen des Wahlstabs, wurden ihm Fabrikarbeiter in Nischni Tagil zugeschaltet, und launig rief er ihnen zu, sie könnten ja nach Moskau kommen und für Ordnung sorgen. Aber Moskau machte das dann selber. Die ersten Oppositionellen wurden in Polizeibusse geschoben, Demonstranten riefen posor, posor, Schande, Schande. Was dann kam? Der Prozess gegen Pussy Riot, Haftstrafen wegen "Massenunruhen", ein Gesetz, das Organisationen zwingt, sich als ausländische Agenten zu registrieren. Der Frühling in Russland fiel aus. Der Protest verstummte.

Ein Jahr später, Sommer 2013: eine Recherche über den Boom der Fußgängerzonen. Eine positive, für Russland fast unpolitische Geschichte. Oder? Die Sonne scheint, Moskaus Straßencafés sind gefüllt, eine Frau sitzt an einer belebten Straße auf einer Bank. Eine von wenigen, die etwas auszusetzen haben an der Verschönerung des Stadtbildes. Sie sagt, das viele Geld solle lieber in Schulen und Kindergärten investiert werden. Ihren ganzen Namen will sie nicht nennen. "Olga". Mehr nicht. "Ich kritisiere doch die Regierung."

Von Frank Nienhuysen

Neuer Vertrag zwischen Staat und Volk: Von 2013 bis heute

Der Moment, an dem die Entwicklung Russlands in eine neue Phase tritt, lässt sich auf die Stunde genau bestimmen. Es ist der 18. März 2014, als sich um drei Uhr nachmittags Würdenträger aus Religion und Gesellschaft und die Abgeordneten beider Kammern des russischen Parlaments im Sankt-Georgs-Saal des Kremls versammeln. Er ist benannt nach dem heiligen Georg dem Siegreichen, dem Schutzpatron der Soldaten. Weiß und golden strahlen Wände und Decke im Licht der Kronleuchter. An den Säulenkapitellen sind die Wappen der Länder und Fürstentümer abgebildet, die das Imperium einst erobert hat.

Putin ist pünktlich. Die Rede wird im Fernsehen übertragen. Und das Publikum erwartet vor allem eines: endlich Klarheit. In den letzten Wochen hat sich Nervosität ausgebreitet: Was haben die grün uniformierten Männer ohne Hoheitszeichen zu bedeuten, die auf der Krim die ukrainische Armee aus ihren Kasernen vertrieben hat? Welche Antwort wird Moskau auf die Hilferufe geben, die die in einem nächtlichen Coup installierte Krim-Regierung abgesetzt hat; welche auf das Hals über Kopf anberaumte Referendum, in dem sich eine Mehrheit für den Anschluss an Russland aussprach?

Ungewissheit war auch das Gefühl, das in den vergangenen Jahren spürbar wurde. Nach der globalen Finanzkrise 2009 hat sich die russische Wirtschaft nie erholt; statt Wachstumsraten um die sieben Prozent gibt es Stagnation. Es fehlt eine neue Wachstums-Story, die erklärt, was das Land außer Öl und Gas und Konsum nach vorn bringen könnte.

Zudem war eine andere Entwicklung erstickt worden: Die erwachende Zivilgesellschaft, die im Winter 2011/2012 nicht nur Hunderttausende gegen Wahlfälschungen auf die Straßen gehen ließ, sondern auch eine Reihe von Initiativen wie Bürgeruniversitäten und Sozialprojekte hervorbrachte, wurde seit der Rückkehr Putins in den Kreml systematisch zurückgedrängt.

Dass der Präsident zu Neujahr den ehemals reichsten Mann des Landes und bekanntesten politischen Gefangenen Michail Chodorkowskij begnadigte, ließ manche auf eine Lockerung hoffen. Doch es blieb bei der einen Geste. Der alte Vertrag mit der Staatsmacht - wachsender Wohlstand gegen den Verzicht auf Mitbestimmung - gilt nicht mehr. Aber Repression allein kann ihn auf Dauer nicht ersetzen.

Vor nicht einmal vier Wochen waren die Olympischen Winterspiele in Sotschi zu Ende gegangen. Ein Medaillentriumph für Russland und ein bombastisches Sportfest für die Welt. Diese jedoch spottete anfangs über die Mängel, was auch jene schmerzte, die dem Kreml gegenüber kritisch eingestellt waren. Der Preis für die Spiele war hoch. 50 Milliarden Dollar, von denen viele in die Taschen von jenen wanderten, die Putin seit Petersburger Tagen begleiten.

45 Minuten spricht Putin im Sankt-Georgs-Saal, immer wieder unterbrochen von donnerndem Applaus. Die Zuhörer springen auf, manche mit Tränen in den Augen. In Sprechchören rufen sie "Russland, Russland". Gegner wie Anhänger Putins werden später sagen, dass es die stärkste Rede war, die er je gehalten hat.

Nach diesen 45 Minuten ist Russland ein anderes Land. Es ist ein völkisches Russland, dass bedrohten Landsleuten überall auf der Welt Schutz anbietet, denn die "Russen sind das größte geteilte Volk der Welt". Es ist zugleich imperialistisch; Putin erinnert daran, dass Kiew die Mutter aller russischen Städte sei. Und es folgt einer höheren Berufung: Jeder Ort auf der Krim sei "heilig".

Es ist zudem ein Russland, das von Feinden bedroht wird, von außen wie von innen. Putin benutzt den Kampfbegriff von der "fünften Kolonne", die im Auftrag fremder Mächte dem Land schade. Er weckt Erinnerungen an die Dreißigerjahre Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als mit dieser Begründung Stalins großer Terror begann.

Die Krim-Annexion eint die Russen: Putins Zustimmungswerte liegen bald doppelt so hoch wie bei seiner Wahl. Sie spaltet aber auch: An der Ukraine-Frage zerbrechen Familien, auf der Arbeit spricht man besser nicht darüber. Soziologen berichten von einer Wende: Hatte im vergangenen Jahrzehnt eine Mehrheit der Russen es vorgezogen, im Wohlstand zu leben, sind nun mehr als 60 Prozent wieder stolz darauf, in einer vermeintlichen Großmacht zu leben und bereit, dafür auf Wohlstand zu verzichten. Ein neuer Vertrag zwischen Staatsmacht und Volk ist geschlossen.

In einer regennassen Nacht im Februar treffen vor dem Kreml vier Kugeln den Oppositionspolitiker Boris Nemzow. In der Kampagne gegen die "fünfte Kolonne" ist er das erste Todesopfer.

Von Julian Hans

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