Goethe-Universität Frankfurt am Main:Ein kleines bisschen Klassenkampf

Goethe Universitaet Frankfurt To Celebrate 100th Anniversary

Seit mehr als 100 Jahren wird an der Frankfurter Uni gelehrt und studiert.

(Foto: Getty Images)

Die Uni Frankfurt steht für viele für Adorno, Habermas, 68er-Geist. Aber was bleibt kurz nach dem 100-jährigen Jubiläum von den alten Idealen? Ein Besuch.

Von Johann Osel

Es ist eher unüblich, Besuchern einer Ausstellung einen leeren Behälter zu präsentieren. Doch genau das gab es vor einigen Monaten an der Universität Frankfurt zu sehen. Die Hochschule feierte ihr 100-jähriges Bestehen, 100 Dinge aus den Jahren sollten am Campus-Westend einen Zugang zur Historie schaffen. Darunter: die leere Schatulle. Das herzförmige, mit purpurfarbenem Samt ausgelegte Kästchen war leer, darin nur der Abdruck der Amtskette des Rektors. 1968 wurde sie geklaut.

"Karl-Marx-Universität" prangte damals auf einem Banner am Rektorat. Studenten hatten das Gebäude gestürmt und besetzt. Als zwei Hundertschaften der Polizei die Besetzung auflösten, fanden sie nicht nur die Bar des Rektors leergeräumt bis auf den letzten edlen Tropfen. Auch die Kette war weg. Immer noch fehlt von ihr jede Spur. Denkbar, dass sie heute ein Alt-68er grinsend zu Hause um den Hals trägt.

Damals protestierten bundesweit Studenten gegen Notstandsgesetze, gegen den Muff unter den Talaren, gegen das Establishment. Frankfurt war das unbestrittene Zentrum.

100 Jahre, das ist nicht viel für eine Universität. In Heidelberg, Würzburg oder Erfurt wurde schon im Mittelalter studiert. Doch die Geschichte der Frankfurter Goethe-Universität ist nicht minder interssant. Bereits ihre Gründung geschah unter ungewöhnlichen Umständen: Die Hochschule verdankt ihre Existenz nicht der Obrigkeit, sondern fortschrittlichen, vornehmlich jüdischen Bürgern, die sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs zusammenfanden, um eine Universität zu gründeten. Die Bildungsstätte verpflichtete sich zur weltanschaulichen und religiösen Neutralität. In der Weimarer Republik blühte sie wie kaum eine andere, war Ausgangspunkt für Erfindungen und Debatten.

Wegen des liberalen jüdischen Gründungsgeistes ging die Gleichschaltung im Dritten Reich in Frankfurt noch skrupelloser vonstatten als andernorts. Und außergewöhnlich war nach dem Krieg auch der moralische Wiederaufbau. Soziologen und Philosophen mit ihrer "Kritischen Theorie" - Adorno, Horkheimer, Marcuse, Habermas - macht die Goethe-Universität weltweit bekannt. In den Folgejahren prägte die Frankfurter Schule nicht nur die Uni, sondern die ganze Bundesrepublik. Die Denker vom Main lieferten den 68ern ihre intellektuelle Basis - auch wenn sich die Revoluzzer schließlich gegen ihre Vordenker wandten. Mit Radau, am Ende teils mit Steinen und Terror.

Was ist geblieben vom 68er-Geist in Frankfurt? Eine kritische Sicht auf die Gesellschaft? Zumindest ein politischer Grundkompass? Vor zwei Jahren wurden für eine von der Uni in Auftrag gegebene Image-Studie Bürger bundesweit gefragt. Ergebnis: Ein "gewisser Frankfurt-Malus" strahlt auf die Hochschule ab: Das Bild einer "abweisenden Metropole, in der nachts der Wind durch die Hochhausschluchten pfeift". Allerdings: Zwei Drittel der Befragten - ohne besondere Vorkenntnisse - gaben an, die Goethe-Uni zu kennen. Und bei den Attributen, die sie damit verbinden: die Frankfurter Schule auf dem ersten Platz, die Finanzwirtschaft erst auf dem dritten. Es ist also bekannt, dass Frankfurt ein Hort des linksintellektuellen Denkens war. Ob die Uni noch immer ein solcher Hort ist?

Schmeckt "krass nach Kirsche"

Ein Rundgang mit offenen Ohren und Fragen. Auf Nachfrage sagen viele Studenten, dass sie sich schon für Politik interessierten - aber nicht mehr als für viele andere Dinge. Bei Gesprächen in der Mensa, vor Hörsälen geht es meist um den Studienbetrieb, man trifft sich zu Lerngruppen. Studenten reden darüber, ob das Tier im großzügigen Campusteich ein Schwan ist; darüber, dass die Kellnerkollegin beim Trinkgeld bescheißt; oder darüber, dass der Kirschsaft hier "krass nach Kirsche schmeckt". Am "House of Finance", dessen Lehrangebot von Banken unterstützt wird, sprechen Krawattenträger auf ihre Smartphones ein. Eine Gruppe vor einem Hörsaal stöhnt immerhin darüber, wie teuer manche Bücher sind - und reichere Kommilitonen da besser dastünden. Zumindest ein Hauch von Klassenkampf.

Den Eindruck, gleich das Rektorat stürmen zu wollen, erweckt freilich niemand. Das mag auch am Ort liegen: Der Campus-Westend in Frankfurt ist die schicke Adresse, wo das Rektorat sitzt. Das Areal soll in den kommenden Jahren zum Mittelpunkt der Hochschule werden.

Keine Einladung zum Kritischsein

Der Gründungsstandort Bockenheim wirkt da etwas anders. Dort steht das Studierendenhaus. In der Zentrale des Allgemeinen Studierendenausschusses (Asta) sinkt man auf durchgehockten Sofas fast bis auf den Fußboden. Am Eingang begrüßen anarchistische Graffiti, im Café Koz herrscht eine lässige, leicht abgewrackte Atmosphäre. Dieser Campus macht in den kommenden Jahren dicht. Schon Geschichte ist der AFE-Turm. 2014 konnten Zehntausende beobachten, wie 950 Kilo Sprengstoff den symbolträchtigen Turm zum Einsturz brachten. Generationen von Geisteswissenschaftlern hatten dort studiert.

Zurück zum Asta: Er kann seine Arbeit mit mehr Rückendeckung machen als andere Studentenvertretungen in Deutschland. Die Beteiligung der Frankfurter an Hochschulwahlen lag zuletzt um die 15 Prozent. Klingt wenig, ist aber ein Spitzenwert - an vielen Unis hat man sich längst an eine Beteiligung im einstelligen Prozentbereich gewöhnt. Bei den Protesten 2009, als bundesweit Studenten gegen die Verschulung im Bachelor auf die Straße gingen, gab es in Frankfurt Rambazamba. Von beiden Seiten - den Demonstranten, die ein zentrales Gebäude besetzten, und von der Uni, die ohne zu zögern die Polizei auffuhr.

Klagen über die Nähe zur Wirtschaft

Beim Asta gibt es zum Beispiel Klagen zu hören über das Konzept der "unternehmerischen Hochschule". Dazu gehöre die Nähe zur Wirtschaft, zu Sponsoren, zu Unternehmen, die sich "effizientes Studieren in Lernfabriken" wünschten. Und dazu gehöre auch die Organisation der Uni. In den vergangenen Jahrzehnten waren in Frankfurt pfiffige Wissenschaftsmanager am Werk, sie haben die Stiftungsidee aus dem Jahr 1914 reaktiviert und so Geld in den Betrieb gebracht: Die drittgrößte Uni Deutschlands mit 42 000 Studenten und fast einer halben Milliarde Jahresetat steht finanziell gut da. Werner Müller-Esterl, bis vor kurzem Präsident der Goethe-Universität, träumte gar von einem "Havard am Main".

Müller-Esters Nachfolgerin ist seit Jahresbeginn Birgitta Wolff, zuvor in Sachsen-Anhalt Ministerin für Wirtschaft und Wissenschaft. Für kritische Geister eine heikle Kombination. Wobei das neue Umfeld offenbar schon abfärbt: Neulich hat sie in der Professorenzeitschrift Forschung und Lehre einen Kommentar darüber veröffentlicht, wie sich Wissenschaft und Wirtschaft jenseits des "schnöden Mammons" vereinen lassen. In der Argumentation kam ihr Adorno zu Hilfe. "Innovation verlangt Freiheit", schrieb Wolff. Studentenvertreter fordern mehr Freiräume; mehr Mitsprache; aber auch, dass das Erbe der Kritischen Theorie besser gepflegt wird.

"Studieren in Frankfurt als Zeitzeugenprojekt" heißt ein Projekt, bei dem Studenten frühere Studenten befragen. Unter den Interviewten ist ein Englisch- und Politiklehrer, der zur 68er-Zeit sein Studium aufnahm. Er erzählt von gesprengten Vorlesungen. Er hatte sich einer der "Basisgruppen" angeschlossen, deren Ziel es war, andere politisch zu bilden. Es sei nicht nur um politisches Bewusstsein gegangen, erzählt er, auch um Vorlesungen aus der Mottenkiste, veraltetes Denken bei Professoren. Doch Anfang der Siebzigerjahre sei es zu einem Wandel des Studiums gekommen, zum Übergang zur "Null-Bock-Generation". Und heute, so glaubt der Zeitzeuge, sei ohnehin alles "völlig anders".

Zweifelsohne dürften die Studenten, in Frankfurt wie andernorts andere Dinge im Kopf haben als die Hochschulpolitik vor der Haustür oder gar die Weltrevolution. Nämlich: Studieren unter Druck, zumal in einer nicht preisgünstigen Stadt, Beispiel Mieten. Wie aus Befragungen hervorgeht, würden zwar 80 Prozent der Studenten ihre Uni weiterempfehlen. Bei der Frage, was sie im Studium belastet, kommen aber Probleme zum Vorschein: 41 Prozent der Befragten im Bachelor-Studium nannten hohe Leistungsanforderungen, 47 Prozent Prüfungsdruck, jeder Dritte Probleme bei der Finanzierung. Die Zahl derer, die sich konkret für Hochschulpolitik interessieren, die mitmischen wollen, schätzt der Asta auf gut 1000.

Vielleicht ist in Frankfurt tatsächlich ein klein wenig mehr geblieben aus jener hochpolitischen Zeit, eine Art Frankfurter Geist. Die Hochschulwelt von heute aber, so heißt es beim Asta, lade nicht unbedingt ein zum Kritischsein.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: