Pflege-TÜV:Aberwitziger Zustand, aberwitzige Reform

Familien, die die Pflege nicht allein schaffen, brauchen dringend Hilfe bei der Suche nach einem guten Heim. Doch die Bundesregierung tut, als sei es eine Herkulesaufgabe, eine gerechte Heimbewertung zu schaffen. Dabei sind die Instrumente dafür längst da.

Ein Kommentar von Kim Björn Becker

Pflegeheime können traurige Orte sein. Sie können Orte sein, an denen das Leben nicht mehr gelebt, sondern auf seinen letzten Metern bloß noch verwaltet wird. Sie können aber auch Orte der Hoffnung sein, weil die Mitarbeiter teilweise Übermenschliches leisten, damit die Bewohner stets behalten, was gemeinhin ihre Würde genannt wird. Nur sieht man es einem Heim von außen ja nicht an, wie gut es geführt wird, wie die Menschen im Innern behandelt werden, und zwar Pfleger wie Gepflegte gleichermaßen. Auch ein Rundgang reicht für ein fundiertes Urteil meist nicht aus, denn für die Dauer einer Tasse Kaffee kann sich nun wahrlich jeder von seiner besten Seite zeigen. Viele Menschen fühlen sich daher bei der Entscheidung für ein Pflegeheim überfordert, ganz gleich, ob sie den Entschluss selbst treffen oder, was fast noch schwerer wiegt, wenn sie für einen Angehörigen entscheiden müssen. In jedem Fall können die Folgen ihrer Wahl gravierend sein.

Vor 2018 dürfen Bedürftige und Familien nicht mit Hilfe rechnen

Die Politik hat erkannt, dass viele dabei dringend Hilfe benötigen, einen unabhängigen Rat, ein verlässliches Urteil. Wenn es den sogenannten Pflege-TÜV nicht bereits seit sechs Jahren gäbe, so müsste man ihn spätestens jetzt einführen. Umso verstörender ist es allerdings, dass die Politik so lange dabei zugesehen hat, wie eine gute Idee zwischen den Mühlsteinen der unterschiedlichen Interessen zermahlen worden ist.

Das Konzept, das hinter dem Pflege-TÜV steht, ist heute nicht einmal mehr im Ansatz erkennbar, im Gegenteil: Selbst Einrichtungen, die ohne Zweifel sofort geschlossen gehörten, konnten sich noch mit einer Spitzenbewertung brüsten. Das Vertrauen ist dadurch beschädigt, die gute Idee des Pflege-TÜV korrumpiert.

Reichlich spät hat nun der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann (CDU), auf den Missstand reagiert und angekündigt, den Pflege-TÜV in zwei Stufen zu reformieren: Erst soll die aberwitzig fabrikmäßige Vergabe von Einser-Noten von Beginn des kommenden Jahres an ausgesetzt werden, danach soll sich ein Beratungsgremium daranmachen, neue Standards zu entwickeln. In der Zwischenzeit werden die Noten durch Zusammenfassungen ersetzt. Doch bis es ein neues System zur Bewertung von Pflegeheimen und ambulanten Hilfsdiensten gibt, wird es Jahre dauern. Vor 2018 ist nicht mit Ergebnissen zu rechnen.

Die Bundesregierung suggeriert, dass es eine Herkulesaufgabe wäre, ein taugliches Prüfwesen zu entwickeln. Tatsächlich wäre die Lösung denkbar einfach: Die 77 Kriterien, die zur Bewertung der Qualität eines Pflegeheims erarbeitet worden sind, gibt es schließlich schon. Der Konstruktionsfehler des gegenwärtigen Verfahrens besteht lediglich darin, dass alle Punkte gleich gewichtet werden. Man braucht kein Expertengremium, um darauf zu kommen, dass kein Mensch sich deshalb für eine bestimmte Einrichtung entscheidet, weil die Speisekarte so schön groß geschrieben ist. Was wirklich zählt, ist, ob alle Bewohner die richtigen Medikamente bekommen, ob man ihnen Zeit schenkt und Beachtung. Ein kluges Beurteilungssystem unterscheidet, wo die Menschen geschätzt werden, und wo bloß verwaltet. Die Instrumente dafür sind längst da, sie müssten bloß eingesetzt werden.

Es wäre die Aufgabe der Politik gewesen, dieses Problem zu erkennen und rasch zu beheben. Aber der Pflegebeauftragte lässt die Menschen nun vermutlich mindestens drei weitere Jahre mit ihrer Ungewissheit allein. Das hilft den Betroffenen nichts, jeden Tag treffen Dutzende Menschen im Land Entscheidungen, die den Rest ihres Lebens bestimmen. Man hätte ihnen zügig helfen müssen. Die Entscheidung, das Notensystem erst auszusetzen und dann in ferner Zukunft neu zu fassen, ist jedenfalls viel zu zaghaft.

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