Zukunft des Silicon Valley:Grenzenlose Zuversicht macht unvorsichtig

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Das Silicon Valley ist noch immer ein Ort der grenzenlosen Zuversicht. Illustration: Stefan Dimitrov

Das Silicon Valley profitiert von seiner Innovationskraft. Aber ist die wirklich einmalig? Wer das glaubt, übersieht die Chancen der Digitalisierung für den Rest der Welt.

Von Marc Beise und Ulrich Schäfer

Die Garage. Sie existiert noch. Ein brauner Schuppen, eine grüne Holztür. Ein Verschlag am Ende eines blitzblanken Weges, hinter einem hohen Eisentor. Hier, in der Addison Avenue Nummer 367 in Palo Alto, haben Bill Hewlett und David Packard einst ihr erstes elektronisches Gerät zusammengeschraubt, einen Tonfrequenzgenerator. Diese Garage ist die Geburtsstätte des Silicon Valley, the "birthplace", wie eine glänzende Tafel im vorderen Teil des Grundstücks verkündet.

Man schrieb das Jahr 1939, im fernen Europa marschierte die Wehrmacht, Nazi-Deutschland überfiel den Nachbarn Polen und begann den Zweiten Weltkrieg. Die beiden Mittzwanziger Hewlett und Packard, Absolventen der nur einen Katzensprung entfernten Stanford University, hatten wenige Monate zuvor beschlossen, ihr dort erworbenes Wissen in eine Geschäftsidee umzusetzen, 538 Dollar Startkapital mussten reichen. Sie legten damit den Grundstein für einen Weltkonzern.

"Ihr solltet uns nicht als Feinde sehen, sondern als Verbündete."

Auch Frederik Pferdt hat eine Garage geschaffen. Selbst wenn sie nicht so aussieht. "The Garage" ist ein weitläufiger Raum auf dem Google-Campus in Mountain View, einige Meilen entfernt von Palo Alto. Ein Kreativlabor mit Glasfront, mit Tischen und Arbeitsflächen auf Rollen, die sich je nach Belieben zusammenschieben lassen und die jeder nutzen darf, Tag und Nacht, auch am Wochenende. Ein paar bunte Autoreifen hängen an der Wand, ein Auspuff, Kotflügel. Frederik Pferdt sagt, er habe die Sachen auf dem Schrottplatz besorgt. Hinter einem Vorhang stehen ein paar Nähmaschinen.

Nähmaschinen? Bei Google? Klar doch, sagt Pferdt. Schließlich will Google riesige Ballons aufsteigen lassen, um am Himmel ein weltumspannendes, drahtloses Internet zu schaffen. Google ist das wichtigste - und zugleich umstrittenste - Unternehmen der Internet-Industrie. Ein Konzern mit viel Geld. Mit einem gewaltigen Datenschatz. Mit einem, wie manche sagen, Allmachtsanspruch. So schnell groß geworden, dass Verleger vor Google zittern und Politiker den Konzern zerschlagen wollen.

Bei Google sehen sie sich anders. Für Eric Schmidt, den Chairman, ist das weltweite Internet nicht zuletzt dank Google eine zutiefst demokratische Veranstaltung. Alle können profitieren, gerechter geht es kaum. Und der Feind der klassischen Medien? Nein, sagt Richard Gingras, der Chef von Google News: "Ihr solltet uns nicht als Feinde sehen, sondern als Verbündete."

Google - ein Freund? Kann man das glauben? Oder ist dieser Konzern, der so viel über uns weiß und nun sogar das machen will, was die Deutschen besonders gut können: Autos bauen - ist dieser Konzern in Wahrheit nicht gefährlich? Ist er, wie der Spiegel jüngst titelte, Teil einer "neuen Weltregierung", die vom Valley aus über unsere Zukunft entscheidet?

Die Unternehmen im Valley, die großen und die kleinen, arbeiten schneller als die Politik, schneller als Washington und Brüssel, schneller als die Parlamente. Sie schaffen Fakten, sie bestimmen das Tempo. Wer begreifen will, warum Google und Co. derart schnell an Macht gewonnen haben (und nun gar als Weltenlenker gelten), der muss daher den Ursprung ihrer ungeheuren Innovationskraft verstehen, diesen unbedingten Willen, Neues zu schaffen.

Die grenzenlose Zuversicht macht unvorsichtig

Einer der Impulsgeber ist Frederik Pferdt. Ein Deutscher, aufgewachsen in Ravensburg am Bodensee, gereift in internationalen Positionen, angekommen bei Google, wo der 37-jährige heute Head of Creativity and Innovation ist und damit dafür zuständig, dass dieses Unternehmen mit seinen inzwischen über 50 000 Mitarbeitern nicht zu einer Behörde verkommt, nicht bürokratisch wird - sondern so alert bleibt wie eh und je. Und das gelingt am besten, wenn man Freiräume schafft, so wie in der Garage. Oder wenn sich jeder Mitarbeiter, wenn er mag, ein Fünftel seiner Arbeitszeit, einen Tag pro Woche, aus der normalen Arbeit ausklinken darf, um eigene Ideen umzusetzen, ein Projekt voranzutreiben, etwas Neues zu entwickeln.

Drei Thesen

Tempo ist alles: Die Unternehmen im Valley sind viel schneller als die Politik

Kreativität ist alles: Nur wer ständig Neues schafft, kann überleben

Die App ist nicht alles: Das große Geld wird eher in der Industrie gemacht

Bei Google sind sie stolz auf ihre offenen Prozesse, darauf, dass jeder (fast) alles wissen darf, dass die elektronischen Kalender aller Mitarbeiter offen sind und jeder sich einklinken kann, wo er etwas beitragen kann. Andererseits: Diese vollständige Transparenz ist für Europäer erschreckend, schließlich erlaubt sie auch vollständige Kontrolle. Das Unternehmen tut zudem sehr viel, um seine Mitarbeiter so lange wie möglich auf dem weitläufigen Campus zu halten: Natürlich sind die zahlreichen Restaurants kostenfrei, von vielen anderen Annehmlichkeiten ganz zu schweigen. Wer hier arbeitet, muss sich um die Organisation seines Lebens nicht mehr allzu viele Gedanken machen, in der "Firma" ist für fast alles gesorgt.

Nur wer wirklich innovativ ist, kann bestehen

Dieses Prinzip, dass Privates und Berufliches immer mehr verschwimmen, findet man in fast allen Unternehmen im Valley, noch beim kleinsten Start-up steht in der Mitte des womöglich einzigen Raums eine Küchentheke, auf der wenigstens Müsli und Obst zum Zugreifen da sind, Wasser und Softdrinks im Kühlschrank sind selbstverständlich. Und bei den Großen ist das Prinzip perfektioniert - wie bei Facebook, das lange Jahre einen eher klassischen Gebäudekomplex genutzt hat, zwei lang gestreckte Büroriegel, die Facebook aber völlig neu gestaltet hat, die Innenwände weggebrochen, komplette Fenster- und Türfronten zum Innenhof, der wiederum jeder italienischen Piazza Ehre macht: Zwischen den Bürogebäuden wurde ein belebter Platz geformt mit Restaurants und Cafés aller Provenienz, Gründer Mark Zuckerberg arbeitet im Großraumbüro und zelebriert, für alle sichtbar, seine Brainstorming-Runden in einem offen einsehbaren Glaskasten an der Piazza. Der Chef zeigt dadurch: Ich bin ganz nah bei den Mitarbeitern. Aber er sagt damit auch: Bei Facebook arbeiten wir alle hart und viel.

Das Facebook-Gebäude gehörte übrigens vorher einem anderen Pionier aus dem Silicon Valley, Sun Microsystems Inc., gegründet 1982, aufgelöst 2010. Nur ein Jahr zuvor, 2009, war der Hersteller von Computern und Software (bekannt als Entwickler der Programmiersprache Java) so groß wie noch nie: knapp 30 000 Mitarbeiter und elf Milliarden Euro Umsatz. Zu dieser Zeit schrieb das Unternehmen bereits Verluste, musste dann Tausende Arbeitsplätze abbauen und fiel dem aggressiven Rivalen Oracle zum Opfer, der sich die Firma einverleibte. Das ist das Prinzip des Valleys: Die einen kommen, die anderen gehen, und nur wer wirklich innovativ ist, kann hier bestehen.

So schnell wie im Valley kommt man nirgends an Geld

Innovativ zu sein - das lernen die Menschen im Valley beispielsweise an einer Hochschule der besonderen Art: an der Stanford University, gesegnet mit vielen Nobelpreisträgern, aber auch einer großen Praxisnähe. Die Professoren sind dabei, wenn ihre jungen Studenten die ersten Ideen haben, sie sind später beratend für deren Unternehmen tätig und haben kein Problem damit, Wissenschaft und Geschäft zu verbinden, auch im Interesse des eigenen Bankkontos.

Innovativ zu sein - das lernen die Firmengründer auch in den zahllosen Basen für Start-ups, in den Akzeleratoren und Inkubatoren, wo die Gründer sich mit ihresgleichen Büro, Kaffeeküche und Server teilen. Und wo sie umgarnt werden von den Business Angels, die ganz früh in die Firmen investieren, meist mit überschaubaren Beträgen, und von den Venture-Capital-Firmen, die folgen, wenn größere Summen benötigt werden. Series A, Series B, bis hinauf zu E heißen diese Finanzierungsrunden. Inzwischen kennt man dieses Prinzip auch in der deutschen Start-up-Szene, aber so schnell wie im Valley kommt man nirgends an Geld - und das macht eben noch den Unterschied aus.

Der Erfolg von gestern ist vielleicht der größte Feind

Es ist auch kein Zufall, dass viele Investoren ihre Büros in einem Viertel in unmittelbarer Nähe zur Stanford University haben. Investoren freilich, die teilweise vom Ruhm früherer Jahre leben. Natürlich sind sie noch immer auf der Suche nach dem nächsten großen Ding, nach der einen Geschäftsidee unter hundert, die wieder ins Milliarden-Dollar-Universum vorstößt, aber diese Erfolge sind seltener geworden. Heute ist es viel schwieriger als vor fünf, zehn Jahren, die richtig großen Nuggets zu finden. Das liegt vielleicht auch daran, dass das Valley das Opfer seines Erfolgs werden könnte. Denn je digitaler die ganze Welt wird, desto leichter kann man auch anderswo auf der Welt von der Digitalisierung profitieren, sie nutzbar machen.

Zukunft des Silicon Valley: SZ-Serie: Wie das Internet der Dinge unser Leben verändert.

SZ-Serie: Wie das Internet der Dinge unser Leben verändert.

Das übersehen die Jünger des Silicon Valley, wenn sie Nachrufe auf alte Industrienationen wie Deutschland verfassen. Geblendet von den vielen goldenen Storys der vergangenen Jahre schreiben sie den bisherigen Trend einfach fort -obwohl der Erfolg von gestern keine Gewähr ist für den Erfolg von morgen, vielleicht sogar dessen größter Feind. Oder anders formuliert: Die grenzenlose Zuversicht, die man fast überall im Valley spürt, macht unvorsichtig. Die Wettbewerber lauern in Asien, wo ebenfalls große Nutzerzahlen zu generieren sind, und vielleicht auch in Europa.

Apps erfreuen die Verbraucher, das große Geld wird woanders gemacht

Man muss an den Rand des Valleys fahren, in die Firmenzentrale des Computerherstellers Cisco, um das zu begreifen. Dort, in den kühlen Hallen einer klassischen Konzernstruktur, relativieren sie das Valley ein Stück weit. Hier weiß man, dass die vielen Gadgets und Apps von Apple und den anderen die Verbraucher rund um den Globus erfreuen, dass aber das große Geld im B2B-Geschäft gemacht wird, business to business also, wenn es darum geht, die großen Fabriken und Konzerne zu digitalisieren.

Es ist kein Zufall, dass hier auch die Hochachtung vor Deutschland am größten ist, vor der deutschen Präzision und Fertigkeit. Und es kommt einem das Wort eines Gesprächspartners in den Sinn, der mit Blick auf die häufig rückständigen amerikanischen Fabrikstandards sagte: Wer keine guten Produkte bauen kann, der wird auch im digitalen Zeitalter lahmen. Wer aber Produktionsweltmeister ist, muss nur noch den Geist und die Methoden des Silicon Valley kopieren.

Allerdings: "Nur noch" - wenn es so einfach wäre! Das einzigartige Gefüge aus Ideen und Begeisterungsfähigkeit und Geld, auch an Unbekümmertheit - dieses Gefüge hatte 76 Jahre Zeit, seit 1939, sich zu entwickeln. Eine halbe Ewigkeit.

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