SPD-Chef zu umstrittenem Freihandelsabkommen:Gabriel auf TTIP-Schlingerkurs

Sigmar Gabriel

Salomonisch? Oder führungsschwach? SPD-Chef Sigmar Gabriel hat sich in einem Interview zum Thema TTIP geäußert.

(Foto: AFP)

Das Freihandelsabkommen mit den USA schafft Wohlstand und Wachstum. So wollen es seine Verteidiger sehen. Jetzt hält SPD-Chef Sigmar Gabriel dagegen. Darauf hätte er schon früher kommen können.

Von Thorsten Denkler, Berlin

Selbst der früherer Handelskommissar Karel de Gucht musste am Ende einlenken. Nein, das Freihandelsabkommen TTIP mit den USA werde doch keinen sofortigen Nutzen bringen. Das stellte er bereits im vergangenen September richtig, als erste Zweifel an der Redlichkeit seiner Prognosen aufkamen. Die EU müsse wohl die Voraussagen über die Wachstums- und Beschäftigungsentwicklung etwas präziser darstellen.

Eine leichte Untertreibung. Die EU-Kommission hatte schon 2013 das Centre for Economic Policy Research (CEPR) beauftragt, ein paar Prognosen abzugeben, wie sich TTIP auf die Ökonomien von EU und USA auswirken könnte. Ergebnis: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der EU könnte mit TTIP um 0,5 Prozent steigen. Das der USA um 0,4 Prozent. Statistisch hätte jeder Haushalt in der EU ein Plus von mehr als 500 Euro in der Kasse. Dolle Zahlen.

In der neutralen Ecke

Nur hat die EU damals irgendwie nicht daran gedacht, den zeitlichen Bezug herzustellen. Das Plus von 0,5 Prozent bezog sich auf einen Zeitraum von bis zu 20 Jahren. Der Konjunktur-Effekt pro Jahr wäre - nun ja - eher ein Scherz. Und selbst diese Prognose ist eine recht optimistische. Verschiedene Forschungsinstitute haben nachgerechnet. Manche kommen auf einen Wachstumseffekt von nicht einmal 0,1 Prozent des EU-weiten BIP pro Jahr.

Das hat jetzt endlich - ein halbes Jahr nach der EU - auch SPD-Chef Sigmar Gabriel gemerkt. "An die wundersamen Berechnungen vom Wirtschaftswachstum durch TTIP glaube ich nicht", gesteht Gabriel jetzt im Focus. Jede Wechselkursschwankung habe stärkere Auswirkungen. Allerdings will er sich von keiner Seite vereinnahmen lassen. "Die ganzen Folgeschätzungen der vermeintlichen Befürworter oder Gegner von TTIP machen alle ein bisschen den Eindruck von Voodoo-Ökonomie."

Gabriel stellt sich lieber in die neutrale Ecke. Kein Wunder. Er hat für seinen Schlingerkurs ganz schön Prügel bezogen in der Partei. Erst war er gegen TTIP, dann mit aller Kraft dafür. Seit Kurzem ist seine Linie: An der Partei vorbei wird es keine Entscheidung zu TTIP geben.

Auch wenn er TTIP im Großen und Ganzen in Ordnung findet. "Unsere Unternehmen würden profitieren, weil sie bei gleichen Standards nicht zweimal ein Zulassungsverfahren durchlaufen müssten", findet Gabriel. Und natürlich profitiere Europa, "weil wir die Standards des Welthandels für die kommenden 20 bis 30 Jahre beeinflussen können".

Das klingt alles in allem salomonisch. Oder führungsschwach. Je nach Blickwinkel.

TTIP

Das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) wird aktuell hinter verschlossenen Türen in Form eines völkerrechtlichen Vertrags zwischen der Europäischen Union, den USA und weiteren Staaten ausgehandelt. Die Verhandlungen über die detaillierten Bedingungen laufen seit Mitte 2013. Mit dem Abkommen sollen Handelshemmnisse abgebaut werden. Dies würde nach Ansicht der Verhandlungspartner das Wachstum der Staaten fördern und Kosten für Unternehmen senken. Kritiker führen an, dass derzeitige Standards in den Bereichen Umwelt, Verbraucher, Gesundheit, Arbeit und Soziales als Handelshemmnisse gelten und damit die Aufhebung solcher Standards drohe.

So kritisieren die USA auch das System des Schutzes regionaler Lebensmittel wie Wein, Brot oder Käse in der EU als ungerecht. Bundesagrarminister Christian Schmidt (CSU) hatte daraufhin gesagt, dass man künftig nicht mehr jede Wurst und jeden Käse als Spezialität schützen könne. "Handwerklich produzierte regionale Spezialitäten sind charakteristisch für unsere Kultur. Der Verbraucher weiß, woher sie kommen und dass er sich auf die Qualität verlassen kann," hält Georg Schlagbauer, Präsident des Bayerischen Handwerkstages, dem CSU-Minister entgegen. Man dürfe nicht zulassen, dass deutsche Lebensmittelstandards aufgeweicht werden. Bayerns Bauerpräsident Walter Heidl fordert den Einzug von "Leitplanken" in den Vertrag. Dazu gehöre der Schutz regionaler Erzeugnisse.

Zumindest die EU-Kommission gibt indes Entwarnung: Das Freihandelsabkommen werde regionale Spezialitäten wie Nürnberg Rostbratwurst oder Allgäuer Emmentaler nicht gefährden. Der Schutz geografischer Kennzeichnungen sei eine der Hauptprioritäten. "Wir werden einer Reduzierung des Schutzes nicht zustimmen", sagte ein Sprecher der Kommission. rsy

Das Problem ist: Das einzige Argument, das vielleicht noch gezogen hätte, wäre die Aussicht auf Wachstum und Wohlstand gewesen. Unternehmensverbände werden nicht müde, auf die schier unglaublichen Chancen des Freihandelsabkommens hinzuweisen. Wenn aber das Wachstums-Argument wegfällt, was bleibt dann?

Ende der Schönfärberei

Womöglich werden einige wenige Unternehmen etwas von TTIP haben. Die Auto-Zuliefer-Industrie zum Beispiel. Manche Kleinteile finden ihren Weg nur deshalb nicht über den großen Teich, weil die Zulassungsbedingungen der US-Seite so komplett andere sind als in der EU. Ein Blinker ist nicht sicherer oder unsicherer, wenn er nach US- oder EU-Regeln zugelassen wird. Da Schranken aufzubrechen ergibt durchaus Sinn.

Gabriels jüngste Einlassung zum Thema TTIP könnte der Versuch sein, die Schönfärberei um TTIP zu beenden. Es wäre in der Tat gut für TTIP, wenn die Debatte darum von Mythen und Übertreibungen befreit wird. Grundsätzlich kann niemand etwas gegen freien Handel haben. Wenn TTIP klappt, müssten Freihandelszonen mit den Volkswirtschaften auf dem afrikanischen Kontinent folgen.

Schade ist nur, dass Gabriel nicht mehr wie ein glaubwürdiger Vertreter in Sachen TTIP wirkt. Zu oft hat er seinen Kurs geändert. Und eine Vision, wohin das alles führen soll, lässt er auch nicht erkennen. Etwas zu wenig für einen, der sich aufgerufen fühlen müsste, eines Tages Angela Merkel im Kanzleramt beerben zu wollen.

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