Politische Erinnerung:Weniger Streit

Politische Erinnerung: Als die Bundesrepublik von der Großen Koalition regiert wurde, schickte der Zeichner Peter Neugebauer Knallbonbons zum Jahreswechsel 1966/67. Zeichnung: Peter Neugebauer.

Als die Bundesrepublik von der Großen Koalition regiert wurde, schickte der Zeichner Peter Neugebauer Knallbonbons zum Jahreswechsel 1966/67. Zeichnung: Peter Neugebauer.

Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung 1970. Ein damaliger Minister erinnert sich an sein Ressort, das er damals als ein "grotesk hilfloses Haus" vorfand. Über ein Ministerium ohne Kompetenzen.

Von Erhard Eppler

Was man früher Entwicklungshilfe nannte, heute Entwicklungszusammenarbeit, begann in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre. Europa hatte die Kriegsfolgen einigermaßen überwunden, die Kolonien verlangten - und erhielten - ihre Unabhängigkeit. Aber sie sollten ja "aufholen".

In der Bundesrepublik waren es zuerst ein paar SPD-Abgeordnete, die - aus der Opposition heraus - 1956 den Antrag stellten, in den Haushalt des Auswärtigen Amtes 50 Millionen Mark einzustellen für die Hilfe an die armen Länder im Süden. Der Antrag fand eine satte Mehrheit. Von da an hat das Auswärtige Amt immer wieder Fachleute entsandt, das Wirtschaftsministerium über die KfW Kredite vergeben.

Als Eppler das Ministerium übernahm, fand er "ein grotesk hilfloses Haus" vor

Nach der Bundestagswahl 1961, bei der die Union ihre absolute Mehrheit verlor, beschloss Konrad Adenauer, für diese Arbeit ein Ministerium zu schaffen. Eine Gründungssage meint, es habe nur deshalb "Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit" geheißen, weil das - nun aufgelöste - Marshallplanministerium auch so geheißen und ungenutztes Briefpapier hinterlassen habe. Über die Kompetenzen des neuen Ministeriums machte sich der 85-jährige Kanzler keine Gedanken. Er hatte genug damit zu tun, die FDP, die den Wählern versprochen hatte, nicht mehr mit dem Alten zu regieren, doch noch ins Boot zu holen. Eine Schlüsselfigur war Walter Scheel. Auch er musste Minister werden. So entstand ein Ministerium ohne Kompetenzen, mit einem Minister, der über alles reden, aber nichts entscheiden durfte.

Erst gegen Ende des Jahres 1964 gestand der Kanzler Ludwig Erhard - und die Kanzler haben die Kompetenz-Kompetenz - dem BMZ die Federführung für die "technische Hilfe" zu, also vor allem für die Entsendung von Experten. Aber auch da fielen die Entscheidungen in "Interministeriellen Referentenausschüssen", denen mindestens das Auswärtige Amt, das Wirtschafts- und das Finanzministerium angehörten. Die großen Kredite der "Kapitalhilfe" waren nach wie vor Sache des Wirtschaftsministeriums. Und dort herrschte von 1966 bis 1972 Karl Schiller.

Er sorgte dafür, dass sich Scheels Nachfolger, Hans Jürgen Wischnewski, bei seinem Versuch, aus dem BMZ ein wirkliches Ministerium zu machen, eine blutige Nase holte. Als ich ihn 1968 ablöste, fand ich immer noch ein grotesk hilfloses Haus vor. Ich hatte gegenüber der Öffentlichkeit Entscheidungen zu vertreten, die andere getroffen hatten. Das war in der Verfassung nicht vorgesehen. Aber konnte ein Minister seine eigene Regierung verklagen?

Es blieb mir nichts anderes übrig, als geduldig und zäh Kompetenzen einzusammeln. Ich musste Kollegen auf die Nerven gehen, was auch meine Nerven nicht schonte. Karl Schiller hat sich bis zu seinem Rücktritt 1972 nie um die Kapitalhilfe gekümmert. Er überließ sie einer Unterabteilungsleiterin. Mit ihr musste ich zurechtkommen. Er hat sich mit mir nie über die gemeinsame Aufgabe unterhalten. Aber abgeben wollte er nichts.

Wenn es schon nicht möglich war, das zuständige Ministerium mit den notwendigen Kompetenzen auszustatten, dann musste versucht werden, bindende Richtlinien für alle Ressorts im Kabinett zu beschließen. Sonst machten die Beamten, deren Minister andere Sorgen hatten, ihre eigene Politik. Ich ließ also eine "Konzeption" erarbeiten und mit den anderen Ressorts abstimmen. Es dauerte immerhin bis zum 18. Januar 1971, bis das Kabinett darüber entscheiden konnte und sie nach kurzer Diskussion verabschiedete. Also am hundertsten Jahrestag der Reichsgründung in Versailles. Aber der 18. 1. 1971 ging nicht in die Geschichtsbücher ein, denn zu Beginn des Jahres 1973, in der zweiten Regierung Brandt, hatte das BMZ endlich alle wichtigen Kompetenzen. Die "Konzeption" war überflüssig geworden. Sie bestimmte nun die Arbeit im erwachsen gewordenen BMZ.

Was die Ausarbeitung der "Konzeption" erleichterte, war der "Pearson-Bericht", den ich im BMZ zur Pflichtlektüre gemacht hatte: Der Weltbankpräsident Robert McNamara hatte den früheren kanadischen Ministerpräsidenten Lester Pearson gebeten, mit einer kleinen Kommission einen Bericht über die Entwicklungspolitik der 60er-Jahre zu erarbeiten. Pearson, der zu mir , dem 29 Jahre Jüngeren, ein beinahe väterliches Verhältnis pflegte, wollte natürlich auf die Entwicklungspolitik der 70er-Jahre einwirken - so wie später die Brandt-Kommission in den Siebzigerjahren die Achtziger im Auge hatte. Pearson wollte zeigen, was man besser machen konnte. Und wir haben seinen Rat ernster genommen als meine Nachfolger den Brandt-Bericht. Was gab es in der Konzeption zu entscheiden? Nicht das, was wir für "politische Lyrik" hielten, also die allgemeinen Leitlinien, sondern alles, was zwischen den Ressorts umstritten war. Wollten wir in den Ländern des Südens das Wirtschaftswachstum steigern oder - das war im BMZ klar - die Grundbedürfnisse der Menschen befriedigen: Nahrung, sauberes Wasser, elementare Bildung, Arbeit? Wessen Interessen sollten bei einem Projekt den Ausschlag geben, die eigenen oder die des Entwicklungslandes? Praktisch: Sollte Lieferbindung gelten oder sollten Projekte international ausgeschrieben werden? Da setzten wir uns gegen das Wirtschaftsministerium durch. Auch der Zinssatz der Kredite war ein Thema: Der wissenschaftliche Beirat des BMZ hatte für höhere Zinsen plädiert, sie hätten eine "erzieherische Wirkung". Wir setzten durch: 2 Prozent für die normalen Kredite, 0,75 Prozent für die ganz armen Länder. Das war damals sehr niedrig. Sollten wir unsere Hilfe nur bilateral, also von Staat zu Staat leisten oder auch multilateral, also über Beiträge zu UN-Organisationen oder über die Sonderkonditionen der Weltbank für arme Staaten? Wir wollten - gegen das Auswärtige Amt - einen beträchtlichen Teil multilateral leisten, zumal die Entwicklungsländer dies vorzogen, weil es keine politische Abhängigkeit nach sich ziehen konnte.

Helmut Schmidt betrachtete Entwicklungshilfe als Konzession an den Zeitgeist

Die "Konzeption" erreichte, was sie erreichen sollte: weniger Krach zwischen den Ressorts. Zwei Jahre später war das geregelt - mit Ausnahme des Tauziehens mit dem Auswärtigen Amt darüber, auf welche Länder wir unsere Mittel konzentrieren sollten.

Helmut Schmidt, der noch 1973 auf der Weltbankkonferenz in Nairobi eine beachtliche Finanzplanung urbi et orbi kundgetan hatte, die ich mit ihm ausgehandelt hatte, sah in der Entwicklungshilfe freilich bestenfalls eine notwendige Konzession an die Verbündeten und an den Zeitgeist.

Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung 1970 (Band 23). Hrsg. von Hartmut Weber. De Gruyter, Oldenbourg 2015. 688 S., 64,95 Euro. Die Protokolle betreffen ausführlich die Felder Entspannungs- und Entwicklungspolitik. Der SPD-Politiker Erhard Eppler war von 1968 bis zu seinem Rücktritt 1974 Bundesminister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit. Für die SZ hat er seine Erfahrungen in und mit diesem Amt geschildert.

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