Architektur in Singapur:Das vertikale Dorf

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Im "Interlace" leben die Menschen so dicht wie im Hochhaus, doch in den "Höfen" zwischen den achteckig aufgetürmten Gebäudestapeln läuft man sich über den Weg wie auf dem Dorfplatz. (Foto: Iwan Baan)

Der Architekt Ole Scheeren hat in Singapur den Siedlungsbau neu erfunden. Statt Wohnblocks nebeneinanderzustellen, hat er sie gestapelt.

Von Jörg Häntzschel, Singapur

Wohnblock oder Hochhaus: das sind die Alternativen in Singapur. Erstere, noch im Auftrag des autoritären Stadtstaats gebaut, sind grau oder pastellfarben und von mittlerer Höhe. Letztere sind weiß, glänzen und ragen so hoch, wie es die strengen Gesetze eben erlauben, in den Himmel - sie müssen schließlich Profit machen. Nur der dichte Teppich aus ausladenden tropischen Bäumen, die hier gehegt werden wie kaum irgendwo, hält all die voneinander abgeschotteten Silos zusammen.

Wenn einer es schafft, hier etwas anderes zu versuchen, dann Ole Scheeren. Der aus Karlsruhe stammende Architekt war als Partner von Rem Koolhaas für den 2012 fertiggestellten CCTV-Tower in Peking verantwortlich, die Zentrale des chinesischen Staatsfernsehens und das spektakulärste und komplexeste Gebäude der letzten Jahre. Wer ein solches Monster auf die Welt gebracht hat, dem hört jeder Developer zu.

Wie die Antwort ausfällt, ist eine andere Frage. Gern erzählt Scheeren von dem minutenlangen Schweigen, in dem die erste Präsentation für sein im letzten Jahr fertiggestelltes vertikales Dorf "The Interlace" verhallte. Und von dem noch größeren Entsetzen im Saal, als die Chefin der Development-Firma schließlich herausbrachte: "Let's do this!" - und das, obwohl seine Idee allen gängigen Rezepten für kommerziellen Wohnungsbau in Singapur zuwiderläuft.

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Statt nämlich einen weiteren Solitär zu bauen, oder zwei oder drei, erfand Scheeren einen Gebäudecluster, der den Grad von sozialer Interaktion zulässt, der in Singapur zu den Zeiten herrschte, als es noch ein Fischerdorf war. Der aber dennoch dieselbe Zahl von Wohnungen erlaubt wie ein Wolkenkratzer mit Abstandsgrün auf derselben Fläche. Preislich liegen die Wohnungen deshalb auch nur im mittleren Bereich. Möglich ist das, indem Scheeren die zwei nicht nur hier dominanten Wohnbau-Typologien der Moderne beleiht: Aufgehängt an "Mega-Säulen", die Treppen und Fahrstühle enthalten und wie im Hochhaus funktionieren, schichtet er 31 sechsstöckige horizontale Riegel in einem achteckigen Muster um acht Höfe übereinander. Dieselben Riegel, die alleine stehend oder in Reihe geschaltet Ödnis garantieren, kommen als Teile eines sehr von Leben pulsenden größeren Ganzen hier zu neuen Ehren.

Das Konzept für die Außenflächen ist hier so raffiniert wie das der Innenräume

Nähert man sich dem Interlace von der Straße, ist man fasziniert von der scheinbaren Instabilität dieser losen Struktur. Da scheint ein Schieben und Schwenken im Gange - so als könnten die Blocks schon morgen ganz anders arrangiert sein. Wie Brücken liegen sie mit ihren beiden Enden auf je zwei tieferliegenden Blocks, ohne dass sie im Inneren etwas zu verbinden scheint. Gefährlich wenig scheint diese Konstruktion von den Bauklotz-Türmen von Kindern zu unterscheiden, deren Hauptzweck es ist, irgendwann mit großem Hallo auf den Teppich zu stürzen.

Doch das scheinbar mutwillige Spiel mit den Grenzen der Statik hat natürlich seinen Sinn. Zum einen hilft es dabei, eine Siedlung mit über 1000 Wohnungen auf wenig Raum wie schwebend erscheinen zu lassen - und zwar ohne den verbreiteten Burg-Effekt, den bei ähnlichen Bauten schon die Aufzug- und Treppenschächte unweigerlich erzeugen. Zum anderen sorgt Scheerens Arrangement für das, was in Türmen wie in Wohnblocks immer fehlt: eine Vielfalt von Perspektiven, Durchsichten, Licht- und Schatten-Konstellationen und unterschiedlichsten Graden von Privatheit und Öffentlichkeit.

Dachgärten, die allen offenstehen

Das gilt auch für den Umgang mit den Freiflächen: Anstelle der üblichen Dichotomie von wehrhaften Balkonen und phlegmatischer Begrünung der Grundstücksreste hat Scheeren ein Konzept für die Außenflächen entwickelt, das mindestens so raffiniert ist wie das der Innenräume. Es reicht von privaten Balkonen über Dachgärten, die allen offenstehen, bis zu den "Höfen", von denen jeder seine eigene Funktion und seinen eigenen Charakter hat. Zusammengerechnet sind die über viele Stockwerke verteilten Grünflächen größer als das Grundstück selbst.

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Scheeren macht sich dabei das tropische Klima zunutze: mit großen Swimmingpools im ersten Hof, einem Spielplatz mit hügeliger Teletubbies-Landschaft weiter hinten, Lotus-Teich, Wasserfall und einem Open-Air-Theater in anderen Höfen. Sogar eine Joggingstrecke hat Scheeren eingebaut - auf der Feuerwehrzufahrt. So wie eine Stadt hat auch sein gestapeltes Dorf seine Viertel - mit unterschiedlicher Vegetation, unterschiedlichem Mikroklima, eigenen Geräuschen. In einem plätschert Wasser, im nächsten hört man Kinder spielen, im dritten raschelt der Wind in den Bambusstauden.

Bambus und Lotus: Das könnte in Deutschland schwierig werden. Abgesehen davon gibt es aber keinen Grund für hiesige Bauherren, sich an Scheerens offen-intimen Wohnwaben nicht ein Beispiel zu nehmen. Ja, man kann tatsächlich gute neue Ideen haben. Und sie lassen sich sogar realisieren.

© SZ vom 16.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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