Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer:Wenn Unmenschlichkeit über Menschenleben entscheidet

Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer: Ein Schlauchboot vollgepackt mit Immigranten auf dem Mittelmeer vor der griechischen Küste

Ein Schlauchboot vollgepackt mit Immigranten auf dem Mittelmeer vor der griechischen Küste

(Foto: AFP)

Ein paar Hundert Tote auf dem Mittelmeer? Ein komplexes Thema, kommentiert das deutsche Innenministerium kühl den jüngsten Untergang eines Flüchtlingsschiffes. Dabei ließe sich eine europäische Rettungsflotte schnell entsenden - wenn man es ernst meint mit Europas Werten.

Ein Kommentar von Andrea Bachstein

Überrascht sein kann nun niemand. Dass es erneut zu einer Tragödie im Mittelmeer mit Hunderten Toten kommen würde, war nur eine Frage von Wochen. Erst zwei Monate liegt der letzte Untergang eines Flüchtlingsbootes mit ähnlich vielen Opfern zurück, und in der Zwischenzeit hat das Sterben derer nie aufgehört, die sich vor Krieg, Verfolgung oder materieller Not nach Europa retten wollen.

Doch wenn es nur wenige sind, nimmt kaum noch jemand Notiz. Zu sehr ist Gewöhnung daran eingetreten, dass das schöne Mittelmeer, das viele Europäer mit Urlaubsfreuden assoziieren, für Unglücklichere zum Grab wird. Für 3500 Menschen endete vergangenes Jahr ihre Flucht in seinen Fluten. Dieses Jahr sind es schon mindestens 800, und die Hauptsaison für Bootsfluchten beginnt erst.

Dass EU-Europa nicht spätestens nach der Katastrophe vom Februar reagiert hat und den paar Schiffen der gemeinsamen Frontex-Mission Triton eine Flotte mit humanitärem Auftrag zur Seite gestellt hat, ist beschämend für alle.

Italiens Küstenwache rettet, wie seit Jahren, unablässig Menschen von den jämmerlichen Kähnen, auf denen professionelle Menschenschmuggler sie dem Meer ausliefern. Und auch die Frontex-Leute, deren Auftrag eigentlich Grenzschutz ist, sind ständig zu Rettungsaktionen im Einsatz. Aber diese Anstrengung reicht nicht.

Keine andere Möglichkeit mehr

Vergangenes Jahr waren es fast 220 000 Menschen, die über das Mittelmeer kamen, Experten erwarten dieses Jahr deutlich mehr. 10 000 Menschen waren es jetzt innerhalb weniger Tage, die geborgen wurden. Die Fluchten übers Wasser haben mit dem Krieg in Syrien zu tun; den Krisen in Afrika und damit, dass Libyen außer Kontrolle ist; dass verschärfte Grenzregime an Landgrenzen vor allem den Syrern keine anderen Möglichkeiten mehr lassen.

Die Linie der EU und Deutschlands ist, dass Kooperationen mit den Herkunfts- und Transitländern die Verhältnisse so ändern sollen, dass zumindest diejenigen, die keine Chance auf Asyl haben, gar nicht erst auf die gefährlichen Reisen gehen und nicht zum Milliardengeschäft der immer brutaler vorgehenden Schleuser beitragen. Es ist richtig, zu versuchen, die Fluchtgründe abzustellen. Europa kann nicht alle aufnehmen und den Herkunftsländern gehen jetzt oft genau die verloren, die dort am meisten gebraucht würden - die gebildeteren, die, die etwas auf die Beine stellen wollen.

Doch mit wem will man darüber derzeit verhandeln? Mit dem IS im Irak? Mit dem Diktator Eritreas? Mit den Kriegsparteien in Syrien? Mit wem in Libyen, der Drehscheibe der Flüchtlingsströme, solange dort bürgerkriegsartiges Chaos herrscht? Es werden auch Pläne erwogen, Auffanglager auf der anderen Seite des Mittelmeers zu schaffen.

Doch abgesehen davon, dass es auch dazu politisch zuverlässige Partner bräuchte - es ist unwahrscheinlich, dass jemand, der die Sahara durchquert hat, losgeschickt mit den Hoffnungen und dem ersparten oder geliehenen Geld ganzer Großfamilien, am Ufer des Mittelmeers wieder brav umkehrt, weil ihm in einem Auffanglager gesagt wird, seine Asylchancen stünden schlecht.

Mare Nostrum - ein Anreiz für Menschenschmuggler?

Es war dieses Argument, nicht zuletzt des deutschen Innenministers Thomas de Maizière, das die auf Seenotrettung ausgelegte Operation Mare Nostrum der Italiener beenden sollte: weil sie ein Anreiz für Menschenschmuggler und Flüchtlinge geworden sei. Mag sein.

Aber dass die nachfolgende EU-Grenzschutz-Mission Triton auf dem Mittelmeer abschreckend wirken würde, dem sprechen alle Zahlen Hohn. Und in dem Jahr, in dem Italiens Marine mit der Küstenwache die Operation Mare Nostrum umsetzte, gab es keinen großen Schiffsuntergang mit Hunderten toten Flüchtlingen.

"Es ist ein Thema, das komplex ist", heißt es mit kaum überbietbarer Kühle nach dem jüngsten Unglück aus dem Berliner Innenministerium. In der Tat: Es gibt keine einfachen Lösungen für die Gründe, die Menschen in die Flucht treiben, nichts davon lässt sich schnell ändern. Aber eine europäische Rettungsflotte, wie Italien sie mit Mare Nostrum aufgestellt hatte, ließe sich schnell entsenden - wenn man nur will und wenn man es ernst meint mit Europas Werten.

Ob die aus dem Meer gezogenen Menschen dann auch in Europa bleiben dürfen, darüber entscheiden reguläre Asylverfahren. Aber nicht alles zu tun, damit Flüchtlinge nicht vor Europas Ufern ertrinken, hieße Unmenschlichkeit entscheiden zu lassen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: