Genossenschaften:Herzstück des Dorfs

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Macht das einzige Lebensmittelgeschäft dicht, droht kleinen Orten die Verödung. Es sei denn, die Bürger helfen sich selbst.

Von Joachim Göres

Resse, ein Dorf mit 2600 Einwohnern in der Region Hannover. Wohin man blickt, fast überall Ein- und Zweifamilienhäuser. Die nächstgrößere Ortschaft ist zwölf Kilometer entfernt. Vor zehn Jahren machte hier die Sparkasse ihre Filiale dicht. Die Ärztin fand vor ihrem nahenden Ruhestand keinen Nachfolger. Dem Lebensmittelhändler wurde der Mietvertrag gekündigt. Ein Drittel der Bewohner sind Rentner - ohne Arzt, Laden und Bank müssten viele von ihnen bei nachlassender Mobilität wohl oder übel den Ort verlassen, in dem sie seit Jahrzehnten wohnen und in dem sie sich wohlfühlen.

"Als die Schließungen absehbar waren, haben wir im Jahr 2005 den Verein ,Bürger für Resse' gegründet, um etwas für die Infrastruktur zu tun", erzählt Karl-Heinz Müller, einer von zehn Gründungsmitgliedern. Heute zählt der Verein 525 Mitglieder, die sich in verschiedenen Arbeitsgruppen ehrenamtlich für ihren Ort engagieren. Der Verein organisierte im Jahr 2006 den Bau eines Ärztehauses, sammelte 40 000 Euro Spenden dafür ein, erwirtschaftete durch die Mithilfe beim Umbau noch einmal fast die gleiche Summe und schloss mit der Bank einen Kreditvertrag in Höhe von 275 000 Euro ab. Drei Mediziner betreiben dort heute eine Gemeinschaftspraxis.

Der neue Markt von Reese ist ein Anziehungspunkt - auch für die Bewohner der Nachbarorte

Für den Bau eines neuen Lebensmittelmarktes plus Grundstück werden 900 000 Euro kalkuliert, die eine Hälfte als Kredit, die andere als Eigenkapital aufzubringen. So viel Geld kann man nicht allein durch Spenden und Selbsthilfe zusammenbekommen - die Idee zur Gründung einer Genossenschaft entsteht. "Auf der Mitgliederversammlung unseres Vereins haben wir den 200 Anwesenden das Genossenschaftsmodell vorgestellt. 126 Einwohner haben Zusagen über den Kauf von einem Genossenschaftsanteil in Höhe von 3000 Euro gegeben. Innerhalb von zwei Wochen hatten wir auf diese Weise 378 000 Euro beisammen", erinnert sich Müller.

Der neue 700 Quadratmeter große Markt mit Backshop und Frischfleischtheke wird an einen Lebensmittelhändler vermietet. Er bietet mit insgesamt 8000 Produkten eine wesentlich größere Auswahl als der bisherige kleine Dorfladen - und wird zum Anziehungspunkt auch für die Einwohner der umliegenden Ortschaften. "Bis heute liegt der Umsatz über der Prognose. Die Mieteinnahmen decken unsere laufenden Kosten", sagt Müller und ergänzt: "Wir verzichten auf eine Ausschüttung des Gewinns auf unsere Anteile, um die Kredite möglichst schnell zurückzuzahlen. In fünf Jahren sind wir schuldenfrei."

Wie erklärt sich Müller das große Engagement der Einwohner? "In Resse gibt es viele ältere Hausbesitzer, deren Haus abbezahlt ist und die 3000 Euro für die Genossenschaft übrig haben. Durch den Laden und weitere Verbesserungen wie die Ansiedlung von Ärzten sind die Grundstückspreise bei uns um 15 Prozent gestiegen." Das Modell einer Genossenschaft hält Müller für "ideal, weil eine Nachschusspflicht ausgeschlossen ist. Das ist gerade für ältere Mitglieder wichtig." Viele von ihnen fänden es gut, sich mit der Einlage von 3000 Euro zu beteiligen, wollten darüber hinaus aber keine finanziellen Risiken eingehen. "Und jeder Genosse hat unabhängig von der Zahl seiner Anteile eine Stimme, das sichert den Einfluss jedes Einzelnen", ergänzt er.

"Wer sich mit Zeit und Geld engagiert, damit das Dorf seinen einzigen Laden behält, der macht das, damit ein Stück Lebensqualität im Ort erhalten bleibt", sagt Günter Lühning. Er ist Vorstand des Dorfladens Otersen, einem 500-Einwohner-Ort in der Nähe der niedersächsischen Kreisstadt Verden. Dort war die Einwohnerzahl in den Neunzigerjahren um 20 Prozent gesunken, nachdem die wenigen Läden einer nach dem anderen aufgegeben hatten. "Experten gehen davon aus, dass der Rückgang der Einwohnerzahl von einem Prozent dem Rückgang des Immobilienwerts von 1,4 Prozent entspricht", sagt Lühning.

Inzwischen hat Otersen seinen Bevölkerungsrückgang wieder wettgemacht - nicht zuletzt durch die Gründung eines Dorfladens, an dem sich 145 Mitglieder mit Anteilen von 250 Euro an beteiligen. "Es ist wichtig, dass die Mindestsumme nicht zu hoch ist, damit viele Menschen mitmachen können. Das erhöht die Identifikation mit dem Laden", betont Lühning. Er fügt hinzu: "Auch das Warenangebot ist entscheidend. Nur Trockenware rechnet sich oft nicht, da die Margen niedrig sind. Frische Produkte, Fleisch und Backwaren sind wichtig." In Otersen gehört zum Laden auch ein Café - ein beliebter Treffpunkt im Ort.

Das "Projekt Dorfladen" ist mit Risiken verbunden: Die Bürger haften mit ihren Einlagen

Von Otersen aus organisiert Lühning das Dorfladen-Netzwerk, dem circa 40 der bundesweit mehr als 200 Dorfläden angehören. Die Rechtsformen, auf deren Grundlage sich Bürger daran beteiligen können, sind ganz unterschiedlich: Es gibt Unternehmergesellschaften, Gesellschaften bürgerlichen Rechts, GmbHs, Genossenschaften und wirtschaftliche Vereine. "Alle haben gewisse Nachteile. Es fehlt leider die richtige Rechtsform für bürgerschaftliches Engagement", sagt Lühning. Nicht überall komme der neue Laden zustande, wenn der Rückhalt in der Bevölkerung zu gering sei. Wo die Begeisterung für die Gründung eines Dorfladens groß ist, tritt Lühning erst mal auf die Euphoriebremse: "Man muss allen Bürgern, die dafür Geld geben wollen, ganz klar sagen, dass das Projekt auch scheitern kann, und sie dann mit ihren Einlagen haften. Bei circa 100 Gründungen, von denen ich weiß, gab es sechs Schließungen."

Wie in Gmund am Tegernsee, wo der 170 Quadratmeter große Dorfladen 2010 mit Bürgeranteilen aus der Taufe gehoben wurde und zwei Jahre später wegen zu geringer Umsätze wieder dichtmachte. Letztlich entscheidet über den Erfolg die Anzahl der Menschen, die wirklich im Dorfladen einkauft - laut Lühning muss ein Jahresumsatz von mindestens 250 000 Euro erreicht werden, damit sich das Ganze rechnet. "Einkaufsfahrten zum billigeren Discounter in die nächste Stadt kann man nicht verhindern. Bei unseren Netzwerk-Dorfläden entfallen im Schnitt 25 bis 30 Prozent der Einkäufe der Einwohner auf den Dorfladen. Wenn nur 15 Prozent erreicht werden, ist das ein schlechter Wert", sagt Lühning.

In Resse plant man derweil schon das nächste Projekt, mit dem Menschen im Dorf gehalten und neue angezogen werden sollen: Eine Wohnanlage, in der man barrierefrei leben kann. Müller: "So kann man in Resse auch im Alter wohnen bleiben. Nächstes Jahr geben wir dafür neue Genossenschaftsanteile aus. Ich weiß, dass es genügend Interessenten gibt."

© SZ vom 17.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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