Mitten in Vaterstetten:Gestern, heute, vorgestern

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Kann man die Vergangenheit verändern, wenn man sie originalgetreu nachbaut? Diese Frage stellt sich in Martin Suters Roman "Die Zeit, die Zeit" - und auch auf der Homepage der Gemeinde Vaterstetten

Von Wieland Bögel

Dass das Vergangene nicht nur nicht tot, sondern nicht einmal vergangen ist, diese Erkenntnis hat die Welt William Faulkner zu verdanken. Und dass seit dem Tod des Schriftstellers mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist, ändert nichts an der Aktualität dieses Bonmots - ganz im Gegenteil. Jüngstes Beispiel für eine nicht vergangene Vergangenheit ist die Website der Gemeinde Vaterstetten.

Seit deren Überarbeitung vor einigen Wochen begrüßt sie den Besucher mit einer kleinen Bildergalerie der schönsten Orte der Gemeinde. Klar, das Ensemble Rathaus mit Kirche vor goldenem Weizenfeld ist dabei, aber auch auf einer Sommerwiese grasende Pferde. Und natürlich darf das nicht mehr ganz so neue Baldhamer Ortszentrum nicht fehlen, mit seinen pseudomaritimen Mehrfamilienhäusern und dem Turm am Marktplatz. Und hier kommt plötzlich der alte Faulkner ins Spiel. Denn das nächste Bild der Galerie zeigt ebenfalls das Ortszentrum - aber ohne Ortszentrum. Stattdessen sieht man auf einer Luftaufnahme, wie es rund um den Baldhamer Bahnhof seit gut einem Jahrzehnt nicht mehr aussieht: Grüne Felder und Gewächshäuser soweit das Auge reicht.

Handelt es sich bei der Galerie auf der Gemeindeseite also um ein simples Vorher-Nachher-Bild, oder steckt doch mehr dahinter? Auch hier kann ein Abstecher in die Literatur helfen, genauer in den Roman "Die Zeit, die Zeit" von Martin Suter. Dessen Protagonisten sind davon überzeugt, dass Zeit nicht existiert und es also möglich ist, die Vergangenheit zu verändern, indem man sie naturgetreu nachstellt. Motiv ist, dass diese Vergangenheit für die beiden Protagonisten nicht ganz so verlaufen ist, wie gewünscht - und da gibt es tatsächlich Überschneidungen zum Baldhamer Ortszentrum. Dieses bekam - weil sich kaum jemand dorthin verirrt - schon einmal den Spitznamen "Platz des Himmlischen Friedens" verliehen und gilt grundsätzlich als die größte ortsplanerische Fehlleistung in der überlieferten Geschichte der Gemeinde Vaterstetten. So antwortete etwa Bürgermeister Georg Reitsberger, als er im Wahlkampf gefragt wurde, was sich aus dem Ortszentrum machen ließe mit: "Ein Glashaus drüberbauen und Gemüse anbauen". Also eigentlich genau das, was inzwischen auf der Gemeindewebsite zu sehen ist. Ein Zufall? Vielleicht versucht man sich in Vaterstetten in konsequentem Zeit-Nihilismus, wie ihn die Figuren in Suters Roman pflegen, und hofft, dass sich das Ortszentrum in einen Zustand früherer Idylle zurückverwandelt. "Morgen wird die Zukunft besser sein", versprach der frühere US-Vizepräsident Dan Quayle einmal und hatte fast recht: denn in Vaterstetten ist morgen auch die Vergangenheit besser - man muss nur ganz fest daran glauben.

© SZ vom 17.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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