Alternde Heroinabhängige:"Ich war so was von Punk"

Jan S in seinem Zimmer im bundsesweit ersten Wohnheim fuer alternde Drogenabhaengige in Unna Nordr

Dawo-Bewohner Jan in seinem Zimmer.

(Foto: imago/epd)

Heroinsüchtige müssen nicht mehr jung sterben. In Unna ergrauen 14 von ihnen gemeinsam - fast wie in einem richtigen Altersheim. Nur dass hier der Safe voller Stoff ist. Ein Besuch.

Von Jannis Brühl, Unna

Früher war alles besser, auch die Süchtigen. Jan isst einen Löffel Nudeln mit Bolognese und sagt: "Ich habe mit den Drogen bei den Hippies angefangen. Da gab es mehr Zusammenhalt. Heute wollen alle in der Szene haben, haben, haben." Die jungen Leute, die der 58-Jährige mit den langen Haaren und dem ergrauenden Bart kennengelernt hat, sind ihm suspekt. Mit ihren Pillen, dem Ecstasy, den Amphetaminen. Jan ist alte Schule, seine Droge war Heroin.

Mit Jan zu Tisch sitzen zwölf Menschen, die wissen, wovon er spricht. Sie haben alle lange Heroin genommen. So lange, dass man es sieht, an den früh gealterten Gesichtern, den fehlenden Zähnen, dem schleppenden Gang. Sie haben es so lange genommen, dass sie irgendwann nicht mehr in gewöhnlichen Therapieeinrichtungen bleiben konnten. Deshalb leben sie nun hier, in zwei miteinander verbundenen Flachbauten nahe des nordrhein-westfälischen Unna.

Draußen weiden Schafe, ein Traktor tuckert über den Acker. Die Holzfigur vor dem Haus des nächsten Nachbarn, Hunderte Meter weiter, ist mit der Kettensäge geschnitzt. In der Hand hält sie eine schwarz-gelbe Borussia-Fahne. Doch Dortmund, die nächste Großstadt mit allen Drogen dieser Welt, ist weit weg. In Unna sollen die Süchtigen endlich Ruhe finden.

Stoff in kleinen Plastikfläschchen

Als "Deutschlands erstes Altersheim für Junkies" geistert die im Januar eröffnete Einrichtung durch die Medien. Dabei mögen sie den Begriff "Altersheim" hier nicht: Die Bewohner sind zwar "vorgealtert", wie Ärzte den beschleunigten körperlichen Verfall Süchtiger nennen. Und viele schieben einen Rollator vor sich her. "Aber 'Dauerwohneinrichtung' (Dawo) ist mir lieber", sagt Sozialpädagogin Anita Vitt. Die Bewohner sind zwischen 37 und 66 Jahre alt.

Der größte Unterschied zum Heim für Omi und Opi, wo der intensivste Rausch vom Kräuterschnaps nach dem Essen ausgelöst wird, steht in einem verschlossenen Schrank in Vitts Büro. Ein Metallsafe, in dem sauber aufgereiht Plastikfläschchen mit klarer Flüssigkeit lagern. Auf ihnen steht: "Lebensgefahr!!!" Es ist Methadon, der Drogenersatzstoff. Ein- oder zweimal am Tag holen die Bewohner sich ihre Dosis.

Das Methadon hat alles verändert

Es ist der Stoff, aus dem ihre letzten Träume sind, auch die von Stephan Isselmann. Der 51-Jährige ist ein schwerer Mann mit struppigen grauen Haaren. Draußen, wo er Heroin rauchte, konnte er nicht mehr: "Ich wollte so nicht mehr weiterleben. Das war wie ein Sumpf." An Heiligabend bekam er die Zusage, dass er in die Dawo einziehen durfte, die vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe finanziert wird.

Isselmann hat im Alter von neun Jahren zum ersten Mal Drogen genommen. Das war 1973. Um ihn ruhigzustellen, habe der Arzt ihn auf Valium gesetzt. Das wurde damals bedenkenlos verschrieben. Er wurde esssüchtig, spielsüchtig, landete beim Heroin. Heute wiegt er 130 Kilogramm. Bewegung fällt ihm auch schwer, weil er vom langen Heroinrauchen so kurzatmig ist.

Lange war der Tod in der Szene immer präsent: "Ich mach' noch ein paar Jahre, dann geh ich drauf", hätten die Süchtigen damals gedacht. Jeder wusste, wie Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage funktionieren. Isselmann selbst musste zweimal wiederbelebt werde, weil er eine Überdosis erwischt hatte. Aber irgendwann änderte sich alles.

"Vorher sind die Leute gestorben wie die Fliegen", sagt Isselmann. Vorher bedeutet: Bevor das Methadon kam. Seit Ende der Neunziger gibt es die Programme mit dem Ersatzstoff. Wer teilnimmt, kann gestreckten Echtstoff, Beschaffungskriminalität, Infektionen, Überdosen vermeiden. Heroinsüchtige, die lange als Todgeweihte galten, können relativ alt werden. Doch damit ist eine neue Herausforderung entstanden: Wie sollen Süchtige im Alter leben?

Spuren der Sucht

Heroin ist eine Droge mit demografischem Faktor. Das Durchschnittsalter der "polizeilich erstauffälligen Konsumenten" ist bei keiner Droge so stark gestiegen: von 27 auf 35 Jahre seit 2000. Nur noch drei Prozent sind jünger als 25 (mehr dazu in diesem Bericht der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht; PDF). In der Drogenhilfe wird deshalb über neue Betreuungsangebote nachgedacht, die Dawo ist Vorreiter. Hier geht es nicht mehr um Entgiftung, Entzug, die Aussicht auf ein Leben ohne Sucht. Hierhin kommen Abhängige, um zu bleiben.

Die Dawo soll ein Zuhause sein. Die Abkürzung steht auch für: "Da, wo man bleiben kann."

Isselmann hat nach erfolglosen Therapien hier endlich die Ruhe gefunden, sein Leben ein bisschen zu ordnen. Nach Jahren hat er wieder Kontakt zu seinem Bruder. Er träumt von einem E-Bike, um den Hügel ins nächste Dorf hochzukommen, das schafft er sonst nicht.

Die Bewohner werden psychosozial betreut. Sie kochen gemeinsam, sind zuständig fürs Putzen. Sozialpädagogin Vitt sagt: "Es besteht keine Vorstellung vom Alltagsleben, wenn sich das Leben Jahrzehnte nur um Suchtmittel dreht." Ab und zu kommen Pfleger, manche hier haben Probleme mit der Wundheilung oder brauchen Hilfe beim Duschen.

Auch an Stephan Isselmanns Körper hat die Sucht Spuren hinterlassen. Wasser in den Beinen, die unteren Vorderzähne fehlen bis auf einen komplett. Obwohl er nicht mehr als ein Jahr spritzte, sagt er: "Ich habe gar keine Vene mehr, die ich benutzen könnte." Ein Zeh musste ihm amputiert werden, weil seine Wunden so schlecht heilen. "Die Bakterien haben von unten Fleisch weggefressen, Knochen weggefressen."

Ein Kopf, der in Flammen steht

Ein männlicher Pferdeschwanz, kahlrasierte Schädel, enge Hosen aus Leder: Einige Bewohner tragen noch Insignien aus ihrer wilden Zeit. Jan erzählt, er habe "überall gelebt", sei mit Punks rumgehangen. Sein Starren klebt die ganze Zeit am Tisch. Plötzlich schaut er geradeaus, fixiert seinen Gesprächspartner, sagt herausfordernd: "Ich war so was von Punk." Ein Blick, wie man ihn auf der Straße lernt.

Die Bewohner arbeiten viel mit den Händen. Isselmann brennt mit einem Lötkolben Muster in Holzplatten, er hat alle Namensschilder an den Zimmern gestaltet. Andere malen, wie der Bewohner, der sofort sein Zimmer verlässt, als der Besuch eintritt. Viele haben psychische Probleme, ungewohnte Situationen sind ihnen unangenehm. An der Wand hängen die Bilder des Geflüchteten. Er hat dasselbe Motiv gemalt, wieder und wieder: einen Kopf, der in Flammen steht.

"Ich wusste nicht mehr, wo ich war"

Eine wichtige Frage ist die des sogenannten Beikonsums. Viele Süchtige nehmen neben dem Ersatzstoff andere Drogen, das können die Betreuer nicht verhindern. Hauptsache, ihre Klienten sind vom Straßenheroin weg. Im Gebäude herrscht strengstes Drogenverbot.

Für Jan ist Beikonsum ein Ritual, für das er einige Meter in den Wald geht: "Ich setz mich auf meinen Baumstumpf, warte auf die Dämmerung. Und wenn ich mein drittes Bier getrunken hab, gehe ich wieder rein." Das geht aber nur nach der Ersatzstoff-Ausgabe. Wer beim Alkoholtest mehr als 0,0 Promille hat, bekommt kein Methadon.

Dirk sitzt im Jogginganzug in seinem Zimmer, überall hängen Borussia-Poster. Der 40-Jährige ist seit Januar hier, allein leben konnte er nicht mehr: "Ich bin immer zusammengebrochen und wusste nicht mehr, wo ich war." Er nahm Heroin, Tabletten, Alkohol. Weil er in anderen Einrichtungen keinen Platz fand, musste er zwei Jahre im Altersheim wohnen - in einem echten. Wie es dort war? "Na, langweilig", sagt Dirk und lacht. Hier, wo Süchtige unter sich sind, gefällt es ihm besser. Er verzeiht selbst dem Bewohner, der zwei Türen weiter wohnt, dass er seine Tür mit Schalke-04-Stickern vollgeklebt hat: "Wir teilen hier alle ein Schicksal."

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