Schiffsunglück:UN befürchten schlimmste Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer

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Aufnahmen eines Schiffes der italienischen Küstenwache, das am Unglücksort im Einsatz ist. (Foto: AFP)
  • Bei einem Schiffsunglück im Mittelmeer sollen nach Medienberichten bis zu 700 Flüchtlinge ums Leben gekommen sein.
  • 28 Migranten konnten demzufolge von einem Handelsschiff gerettet werden. Einer UN-Sprecherin zufolge gibt es wohl keine weiteren Überlebenden.
  • Sollten sich die Zahlen bestätigen, wäre es nach UN-Informationen das "schlimmste Massensterben, das jemals im Mittelmeer gesehen wurde".
  • Die EU-Kommission äußerte sich "zutiefst betroffen" und kündigte eine Dringlichkeitssitzung der Innen- und Außenminister an.

Hunderte Tote bei Schiffsunglück im Mittelmeer

Ein Flüchtlingsboot mit mehr als 700 Menschen an Bord ist im Mittelmeer gekentert, wie die Vereinten Nationen bestätigten. Das Unglück ereignete sich in der Nacht zum Sonntag etwa 110 Kilometer nördlich der libyischen Küste. Rettungskräfte befürchten, dass bis zu 700 Migranten ums Leben gekommen sein könnten. 24 Leichen haben die Rettungskräfte bereits geborgen.

"Im Moment müssen wir befürchten, dass dies eine Tragödie von gewaltigem Ausmaß ist", sagte Carlotta Sami, Sprecherin des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) dem italienischen Sender SkyTG24: Sollten sich die Zahlen bestätigen, wäre es das "schlimmste Massensterben, das jemals im Mittelmeer gesehen wurde" und die schlimmste Flüchtlingskatastrophe der jüngeren Vergangenheit in der Region. Auch würde sie die Katastrophe von Lampedusa 2013 noch übertreffen.

UNHCR-Sprecherin: Wohl keine weiteren Überlebenden

Italiens Küstenwache und Marine suchten mit Booten und Hubschraubern am Unglücksort vor der libyschen Küste nach Überlebenden, 28 Menschen konnten von einem Handelsschiff aufgenommen werden, das die Rettungskräfte alarmiert hatte. "Sie suchen buchstäblich unter den im Wasser treibenden Leichen nach Überlebenden", sagte der Regierungschef von Malta, Joseph Muscat, am Sonntag. Der UNHCR-Sprecherin zufolge gibt es jedoch keine weiteren Flüchtlinge, die das Unglück überlebt haben. Unter den Toten seien Kinder, Frauen und Männer. Insgesamt 17 Schiffe waren am Sonntag am Unglücksort im Einsatz.

Ersten Erkenntnissen zufolge hatten die Migranten einen Hilferuf abgesetzt. Die italienische Küstenwache wies daraufhin einen portugiesischen Frachter an, seine Route zu ändern. Als sich dieser näherte, eilten viele Migranten zu einer Seite des Schiffes, um die Retter zu erreichen. Daraufhin sei das etwa 30 Meter lange Boot gekentert. Über die Herkunft der Menschen an Bord war zunächst nichts bekannt.

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Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini forderte mehr Schutz von Flüchtlingen im Mittelmeer. Das werde auch Thema bei dem EU-Außenministertreffen in Luxemburg am Montag sein, sagte sie. "Wir haben zu oft schon gesagt, nie wieder." Die Europäische Union als Ganzes müsse das Problem nun zügig angehen. Die Mittelmeer-Staaten seien zu lange alleine auf sich gestellt gewesen.

Frankreichs Präsident Francois Hollande rief dazu auf, Rettungsmissionen zu verstärken. Es seien mehr Boote und mehr Überflüge des Mittelmeeres nötig, um gegen den Menschenhandel vorzugehen, sagte Hollande im Fernsehsender Canal+.

Maltas Regierungschef Joseph Muscat sagte, die Tragödie sei ein weiterer Beweis, dass Italien und Malta mehr Unterstützung von den europäischen Partnern benötigten. Zwar gebe es "ermutigende Signale", es müsse aber gehandelt werden, forderte er. "Eine Tragödie ereignet sich im Mittelmeer", sagte Muscat. "Es wird eine Zeit kommen, zu der Europa für seine Untätigkeit verurteilt wird, so wie es verurteilt wurde, als es beim Genozid wegschaute."

Grünen-Chefin spricht von Schande für Europa

Auch Grüne, SPD und Linke forderten eine Seenotrettungsmission. "Erneut hunderte Tote im Mittelmeer sind eine Schande für Europa und uns alle", erklärte Grünen-Chefin Simone Peter. "Wer jetzt nicht handelt, macht sich unterlassener Hilfeleistung schuldig", erklärte der SPD-Menschenrechtsexperte Frank Schwabe. Linken-Fraktionsvize Jan Korte forderte eine Führungsrolle Deutschlands bei den Hilfsmaßnahmen. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), erklärte, es sei eine "Illusion" gewesen, die Einstellung des "Mare Nostrum"-Programms werde die Menschen von der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer abhalten.

Ein neues Seenotrettungsprogramm ist in der großen Koalition umstritten. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte es kürzlich mit der Begründung abgelehnt, dies sei Beihilfe für die Schlepper. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl forderte de Maizière auf, seinen Widerstand gegen ein neues Rettungsprogramm aufzugeben. Ihr Geschäftsführer Günter Burkhardt sagte, Menschenleben müssten gerettet werden. "Es ist völlig egal, ob dadurch Schlepper profitieren." Burkhardt forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf, sich der Flüchtlingsproblematik auf dem Mittelmeer anzunehmen. "Das muss jetzt Chefsache sein."

Derweil hat Papst Franziskus die internationale Gemeinschaft angesichts der erneuten Flüchtlingstragödie im Mittelmeer zu einem entschiedenen Eingreifen aufgefordert. "Ich appelliere sorgenvoll, dass die internationale Gemeinschaft mit Entschlossenheit und Schnelligkeit handelt, um zu verhindern, dass sich ähnliche Tragödien wiederholen", sagte der Argentinier nach dem wöchentlichen Regina-Coeli-Gebet auf dem Petersplatz in Rom.

Immer wieder Flüchtlingsdramen im Mittelmeer

Seit Jahren kommen im Mittelmeer immer wieder Bootsflüchtlinge auf dem Weg nach Europa ums Leben. Nach bisheriger Schätzung des UNHCR sind in diesem Jahr 900 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Erst am vergangenen Sonntag waren vermutlich 400 Menschen ums Leben gekommen, nachdem ihr Boot umgekippt und untergegangen war. Pro Tag werden zwischen 500 und 1000 Menschen von der italienischen Küstenwache oder Handelsschiffen gerettet.

Im Februar dieses Jahres starben vor der italienischen Insel Lampedusa möglicherweise mehr als 330 Flüchtlinge - mindestens 29 von ihnen während der Überfahrt von Libyen nach Italien an Unterkühlung.

© SZ.de/dpa/AFP/fie - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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