Nürnberger Prozesse:Wie das Massaker von Katyn aus der Anklage verschwand

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Exhumierung im Wald von Katyn: Die Leichen von Tausenden polnischen Kriegsgefangenen wurden 1943 hier gefunden.

(Foto: AFP)

1940 ermordeten die Sowjets in Katyn Tausende polnische Kriegsgefangene. In den Nürnberger Prozessen versuchten sie, das Verbrechen den Nazis in die Schuhe zu schieben. Ausgerechnet deutsche Hitler-Gegner brachten den Plan zum Scheitern.

Von Thomas Urban

Im Frühjahr 1940, vor 75 Jahren, brach die Korrespondenz plötzlich ab. Etwa 15 000 polnische Offiziere, Fähnriche und Beamte, waren in den ersten Wochen des Krieges nach dem Angriff der Roten Armee auf ihr Heimatland in Kriegsgefangenschaft geraten. Im Lager hatten sie sich das Recht erstritten, einmal im Monat ihren Familien zu schreiben. Dann schrieben sie plötzlich nicht mehr.

Am 5. März 1940 beschloss das Politbüro unter Stalin ihre Hinrichtung als "unverbesserliche Feinde der Sowjetunion" (hier die Übersetzung des Mordbefehls aus der Dokumentensammlung der Bayrischen Staatsbibliothek). Kommandos der Geheimpolizei NKWD erschossen die polnischen Kriegsgefangenen im April und Mai 1940 an einem halben Dutzend Orten und verscharrten sie in Massengräbern. Die Aktionen unterlagen strengster Geheimhaltung.

Erst 50 Jahre später sollte Michail Gorbatschow die sowjetische Täterschaft offiziell einräumen. Direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs versuchte die Regierung in Moskau noch, die Verantwortung für das Massaker den Deutschen anzulasten. "Katyn" sollte ein Anklagepunkt in den Nürnberger Prozessen werden. Dass es nicht dazu kam, lag vor allem an der Aussage eines deutschen Offiziers.

Wehrmachtsangehörige entdeckten die Massengräber

Im Februar 1943 entdeckten Wehrmachtsangehörige nach Hinweisen aus der Bevölkerung Massengräber in einem Wald unweit des westrussischen Dorfes Katyn. Der Stab der Heeresgruppe Mitte, der in der halbzerstörten Großstadt Smolensk nur wenige Kilometer entfernt stationiert war, ließ die Gräber untersuchen (hier der amtliche deutsche Untersuchungsbericht). Die Arbeiten beaufsichtigte Oberstleutnant Rudolf-Christoph von Gersdorff, Chef der Abwehr in der Heeresgruppe.

Gersdorff gehörte zu einer Gruppe von Offizieren in Smolensk, die angesichts der Verbrechen des NS-Regimes planten, Hitler zu töten. Das sollte nach dem Krieg im Zusammenhang mit den Massakern von Katyn noch von Bedeutung sein. Zu der Widerstandsgruppe zählte auch Oberleutnant Fabian von Schlabrendorff, im Zivilberuf Rechtsanwalt.

Zweimal versuchten die Verschwörer im Frühjahr 1943, den Führer mit Hilfe einer Bombe zu töten, einmal nahm Schlabrendorff die Sache in die Hand, einmal Gersdorff. Doch beide Attentate misslangen (hier Schlabrendorffs Bericht zum ersten Attentatsversuch, hier die Beschreibung des zweiten Anlaufs auf der Webseite der Gedenkstätte Deutscher Widerstand).

Begeisterung für "Uncle Joe"

Gersdorff widmete sich danach weiter den Exhumierungen im Wald von Katyn. Als feststand, dass es sich um einen Teil der 1940 verschwundenen polnischen Offiziere handelte, nahm sich Propagandaminister Joseph Goebbels des Falles an: Er ließ Gerichtsmediziner, Journalisten und Schriftsteller aus mehreren Ländern sowie amerikanische und britische Kriegsgefangene nach Katyn bringen (hier ein Forschungsbericht). Ihre Berichte sollten den Westen über das grausame Regime Stalins aufklären, Goebbels wollte damit einen Keil in die Anti-Hitler-Koalition treiben.

Dieses Vorhaben misslang allerdings gründlich: US-Präsident Franklin D. Roosevelt und vor allem seine Berater im Weißen Haus ließen sich nicht von ihrer naiven Begeisterung für Stalin abbringen, den sie "Uncle Joe" nannten. Der britische Premier Winston Churchill traute Stalin zwar Verbrechen wie in Katyn zu, doch kamen die Experten des Foreign Office zu keiner eindeutigen Bewertung (nachzulesen im Bericht des britischen Nationalarchivs).

Hinzu kam, dass nach der Rückeroberung des Gebietes um Smolensk der Kreml eine eigene Expertenkommission nach Katyn schickte. Die legte im Januar 1944 einen eigenen Bericht vor, und brandmarkte darin die Deutschen als Täter (hier die englische Version des manipulierten Berichtes in Soviet War News Weekly). Die Darstellung überzeugte nicht nur westliche Korrespondenten, sondern auch den US-Botschafter in Moskau.

Um Katyn ranken sich viele Legenden. Eine davon ist, dass Roosevelt und Churchill fest von der Schuld des NKWD überzeugt gewesen seien, dies aber offiziell bestritten hätten, um die Allianz mit Stalin nicht zu gefährden. In Wirklichkeit gelangten Berichte, die die Sowjets als Täter benannten, aber erst gar nicht ins Weiße Haus, wie heute bekannt ist. Offenbar fürchteten die Beamten den Zorn des beratungsresistenten Roosevelt, der die Vision hatte, gemeinsam mit Stalin den Frieden in einer künftigen demokratischen Welt zu sichern.

Widerstandskämpfer warnt vor Causa Katyn

Unter den britischen Experten überwogen die Verfechter der Version Moskaus, nach der SS und Wehrmacht die Toten von Katyn auf dem Gewissen hatten. Die unmittelbar nach dem Krieg gewählte Labour-Regierung sympathisierte ohnehin mit Stalin. Auch die Korrespondenten der New York Times sowie der meisten britischen Blätter schrieben von einem deutschen Verbrechen.

Stalin ließ in den Monaten nach Kriegsende Offizieren der Wehrmacht unter anderen wegen Katyn den Prozess machen. Die sowjetische Wochenschau zeigte eine öffentliche Hinrichtung in Leningrad, die westliche Presse berichtete darüber.

Angesichts des für den Kreml überaus günstigen Echos ließ Stalin Katyn auf die Liste der deutschen Verbrechen für das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal setzen.

Anklagepunkt stillschweigend fallengelassen

Dieser Plan ging allerdings nicht auf: Der Punkt Katyn wurde von der Liste gestrichen. Er war in der Anklageschrift, tauchte später aber weder in den Schlussplädoyers noch im Urteil auf, eine Begründung dafür gab es nicht. Der Punkt wurde also stillschweigend fallengelassen - weil die amerikanischen und britischen Richter dies verlangten. Es war eine Niederlage für den berüchtigten sowjetischen Ankläger Roman Rudenko.

Doch wie kam es dazu, dass die Vertreter der Westmächte plötzlich die sowjetische Version von den deutschen Tätern entschieden ablehnten? Das war bislang völlig unklar.

Erst kürzlich freigegebene US-Dokumente geben nun eine überraschende Antwort auf diese Frage: Den Anstoß dazu gab demnach der Widerstandskämpfer Fabian von Schlabrendorff.

Schlabrendorff war auch nach seinem Attentatsversuch vom März 1943 weiter an Plänen zur Ermordung Hitlers beteiligt und stand mit führenden Köpfen der Bewegung des 20. Juli 1944 in Verbindung. Als die Gruppe aufflog, wurde auch er festgenommen. Schlabrendorff wurde mehrfach schwer gefoltert, trotzdem gab er seine Mitverschwörer nicht preis, darunter Oberstleutnant Gersdorff, der die Dienstaufsicht über die Untersuchung von Katyn geführt hatte.

Nach dem Krieg befragte der amerikanische Geheimdienst OSS Schlabrendorff zum deutschen Widerstand. Seine Analyse des Oberkommandos der Wehrmacht überzeugte den früheren OSS-Chef William J. Donovan, der der US-Delegation in Nürnberg angehörte: Er nahm Schlabrendorff inoffiziell in seinen Beraterkreis auf.

"Anti-Nazis, aber nicht antideutsch"

Als Schlabrendorff erfuhr, dass der sowjetische Ankläger Rudenko das Massaker von Katyn den Deutschen anlasten wollte, intervenierte er. In einer weiteren Analyse schrieb er, dass er als Augenzeuge der Exhumierungen keinen Zweifel an der sowjetischen Täterschaft habe. Er warnte Donovan: "Die Demokratien würden ihre gute Sache durch die Aufstellung einer nachweisbar unwahren Behauptung schwer gefährden." (Denkschrift Schlabrendorffs über die Nürnberger Prozesse, zu Katyn S. 6-7).

Donovan begriff, dass die Causa Katyn den gesamten Prozess in Misskredit bringen könnte. Er verfasste sofort einen Bericht an den amerikanischen Hauptankläger Robert H. Jackson. Als dieser nicht gleich reagierte, bombardierte Donovan ihn mit kleinen Notizzetteln wegen Katyn (hier einer davon). Jackson ließ sich schließlich überzeugen, er traf sogar Schlabrendorff und andere Widerstandskämpfer. Als Gegner Hitlers und ehemalige KZ-Häftlinge waren sie für ihn absolut glaubwürdig. In sein Tagebuch trug er ein: "Sie waren Anti-Nazis, aber nicht antideutsch."

Schlabrendorff verwies zudem auf Gersdorff, der ja alle Details über die Untersuchung von Katyn kannte. Dieser befand sich in amerikanischer Gefangenschaft, aber in komfortabler Lage: Er gehörte zu einer Gruppe deutscher Generalstäbler, die US-Militärhistorikern halfen, eine Geschichte des Krieges zu verfassen. Nun bekam er den Auftrag, einen Katyn-Bericht zu liefern. Doch dieser Bericht verschwand in amerikanischen Archiven (und ist heutzutage nur in einer englischen Übersetzung zu finden).

Gersdorff entlastete darin nämlich nicht nur die Deutschen, sondern er belastete die sowjetische Seite schwer. Daran aber waren die Westmächte dann doch nicht interessiert. Der Stalinist Rudenko hatte gedroht, den Prozess platzen zu lassen - das wollten die Westmächte nicht riskieren. So kam Katyn in Nürnberg einfach nicht mehr zur Sprache.

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